Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Nach der „Steuerreform“ ist vor der Staatsreform

April 2015

Pünktlich hat sie geliefert, die Bundesregierung. Es hätte auch nicht mehr an Substanz gebracht, noch ein paar Tage oder Wochen mehr in den Minimalkonsens zu investieren, der dem Volk als größte Steuerreform vorgelegt wurde. Tragfähige Vorarbeit, Einigkeit über strategische Optionen und Prioritäten wären ohnehin nicht mehr zu erreichen gewesen. Auch nicht weniger irritierender Lärm vom Hypo-Desaster. Dieses wird die Öffentlichkeit ja noch weiter beschäftigen und ungnädig stimmen.

Eine wirklich „große“ Steuerreform hätte viel mehr an sachlicher Analyse der politischen und wirtschaftlichen Optionen vorausgesetzt. Das hätte manche Positionen grundsätzlich infrage gestellt und Illusionen erkennen lassen. Daraus wären begehbare Wege und Ziele abzuleiten gewesen: über die Balance zwischen Staat und Privat, über die Verteilung des Wirtschaftsertrags, gerade auch zwischen der älteren und den jüngeren Generationen, über die darauf zu bauende soziale Wohlfahrt und das Steuersystem, und, wichtigster Schlüssel für die Zukunft: über ein Bildungssystem für heute und morgen. Damit noch nicht genug: Natürlich wären auch Antworten gesucht auf die Fragen der Umwelt und der Zusammenarbeit in Europa und in der Welt.

Letztlich geht es bei einer Steuerreform nicht in erster Linie um Steuersätze und Staatsquoten: Es geht um die Qualität dessen, was der Staat für – so oder so viel – Steuergeld liefert, und um die Zukunftstauglichkeit des staatlichen Systems. Nach der jahrzehntelangen Wachstumsära ist dieses in ein stark verändertes Heute geraten und muss für das Morgen mit noch mehr Änderungen rechnen. In Österreich hat man sich bisher zu wenig mit einer gänzlich neuen Situation und mit einem Kurs über die nächsten Wahlen hinaus beschäftigt. Die Politik rechtfertigt das damit, dass große Würfe nicht möglich waren – wegen enormer Unsicherheit und weil man mit den immer wieder aufflammenden Brandherden auf dem eigenen Dach und auf dem des Nachbarn mehr als ausgelastet gewesen sei.

Vielleicht hat die Politik mit dem Steuerpaket vom 17. März etwas Zeit und Ruhe gewonnen. Sie müsste sich nun vorrangig damit beschäftigen, was auf das Land in absehbarer Zukunft zukommen könnte. Der zu kurze Zeithorizont der Politik, das Nicht-weiter-Denken ist nicht eine Frage des Könnens, sondern des Wollens. Die dringenden Konsequenzen, die ein Blick vor allem für das nächste Jahrzehnt ergibt, erscheinen der österreichischen Politik äußerst unbequem. Es wären die bröselnden Fundamente infrage zu stellen, nicht nur die Kosmetik der Steuertarife. Damit sei akzeptiert, dass ein paar Beschlüsse des Steuerpakets 2015 per Saldo richtig und dringend waren, vor allem die Senkung des Steuertarifs auf Erwerbsarbeit. Aber weit darüber hinaus reichte der Konsens, der in einer ziemlich zerfahrenen Diskussion zu gewinnen war, eben nicht.

Österreich steht vor Problemen, die nicht durch einen vielleicht wieder einmal einsetzenden Konjunkturaufschwung von selbst gelöst würden. Wir sind, wie ganz Europa, in eine Epoche eingetreten, in welcher die Lasten der Staatsschuld, die Kosten der Alterung und die der globalen Umweltentwicklung geschultert werden müssen. Gleichzeitig ist unsere wirtschaftliche Position in der Welt des 21. Jahrhunderts zu sichern. Dabei geht es gar nicht um den Horizont 2060, den die Demografen extra­polieren, aber noch weniger um den Horizont 2018, den sich die Regierung steckt. Es geht vor allem um die bedenkliche Perspektive 2030.

Die zurückliegenden Jahrzehnte brachten Jahr für Jahr einen beachtlichen Zuwachs an wirtschaftlicher Wertschöpfung. Jede Altersgruppe konnte damit rechnen, dass sie dereinst über mehr materiellen Wohlstand verfügen werde als ihre Eltern. Gestützt auf diesen Fortschrittsglauben sind wir einerseits einem unerhört banalen Materialismus verfallen, andererseits konnte die soziale Sicherheit ausgebaut werden. Die hat in Österreich ein vergleichsweise hohes Maß an Komfort erreicht. Teile der Bevölkerung haben sich daran gewöhnt, sich in jeder Lebenslage auf das Wirken des Staates zu verlassen. Dabei wird gewöhnlich übersehen, dass „der Staat“ wir alle sind.

Nun, nach dem Steuerkompromiss, plakatiert eine Partei: Wir (also die betreffende Partei) „haben für alle mehr rausgeholt“. Wo heraus? Woher kommt das Mehr? Doch nicht von den Parteien oder der Regierung! Das ist die typische oberflächliche Volksverdummung, die unter Strafe gestellt werden sollte, ähnlich wie der Tatbestand der Volksverhetzung. Und bezahlt wird eine so unverantwortliche PR aus der abermals verteuerten Parteienfinanzierung, also von den Steuerzahlern, denen kindische Blödheit unterstellt wird. Den Glauben an das Christkind gibt man im Volksschulalter auf, aber keineswegs den an den Staat, der Gaben verteilt.

Auf der gleichen Linie liegt, wenn sich nicht nur die Verbände der Pensionisten, sondern auch jene der Jugendorganisationen gegen Reformen beim Pensionssystem wehren. Das könnte für sie ja längere Lebensarbeitszeiten bedeuten. Sie wollen doch nicht schlechter gestellt sein als ihre Eltern und als es das gegenwärtige Pensionssystem vorsieht. Dabei übersehen sie, dass es sie selbst sein werden, die das nicht mehr zahlen können. Offenbar hofft man darauf, dass jemand auftritt, der auch den heute Jungen in dreißig Jahren „mehr rausholt“.

Wer gewohnt ist, weiter zu denken, zuerst für sich selbst Verantwortung zu tragen, eine eigene Lebensgestaltung zu realisieren, und daher nicht automatisch dem folgt, was die Werbung aufdringlich anpreist und wozu „der Staat“ verleitet, der spürt, welch gewaltiges Unbehagen in der Bevölkerung entstanden ist. „Professionellen Bedenkenträgern“ und „selbsternannten Experten“ (der Verfasser zählt sich dazu) wird dringend empfohlen, „das Volk nicht unnötig zu beunruhigen“, „nicht schlafende Hunde zu wecken“. Das Volk ist aber längst beunruhigt. Es hat auch nicht verdient, mit Hunden verglichen zu werden, die weiter schlafen sollen.

Aber wie? Schweden hat vor mehr als zwanzig Jahren ein Beispiel geliefert. Man nahm dort die demografischen Perspektiven ernst, dass die bestehenden Vorsorgen für eine alternde Gesellschaft und für geringere Wirtschaftsdynamik nicht genügen würden. Und dann rafften sich fast alle Parteien im Reichstag auf, einen nationalen Grundkonsens zu suchen: über unbestreitbare Fakten und über prinzipielle Strategien. Die natio­nale Strategie für die Epoche der Alterung ließ Konsequenzen für Verfassung und Verwaltung, für das Steuersystem und die Sozialversicherung erkennen. Natürlich nicht nur solche, von denen alle begeistert waren. So etwas tut weh und bricht mit bequemen Gewohnheiten. Aber es macht klar, dass es ohne Reformen schlimmer kommen könnte. Die, die ein unzeitgemäß gewordenes System mit Zähnen und Klauen verteidigen, sind in Wirklichkeit dessen Totengräber.

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