Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Nach der Wahl: Politik für mehr als 18 Monate

Oktober 2019

Um die verdiente Erholung des Volkes im Sommer nicht zu gefährden, lieferte die sehr eigenartige politische Konstellation, die im Mai etabliert werden musste, am Laufband unterhaltsame Theaterszenen und knifflige Quizfragen: 
1. Wann müssen muslimische Mädchen in Österreich das Kopftuch ablegen: a) mit drei, b) mit sechs oder c) mit neun Jahren? 2. Wie verbucht man türkisfarbene Kugelschreiber und eben solche Luftballons ordnungsgemäß in der Buchhaltung: a) als politische Innovation, b) als jugendfreie Wahlkampfmunition, c) als auf der Straße erlaubtes Symbol einer Religion? d) als Ladenhüter aus dem analogen Zeitalter, 3. Wie bezeichnet man einen Heeresminister, der kein Geld hat, richtig: a) als politisch naiv oder b) als „ He(e)rzog mit der leeren Tasche“? 4. Wie soll man sich einen Lockvogel vorstellen, von dem nur ungepflegte Zehenkrallen im Video zu sehen sind: a) als ganz gewöhnliche Ibiza-Taube, b) als seltene Blauschnäpperin, die nicht singen kann? 
Abgesehen von der Beschäftigung mit derartigen Grundsatzfragen, hätten sich heuer eine Reihe von weniger unterhaltsamen, aber unbequemen Fragen aufgedrängt. Die schienen aber geeignet, die verdiente Erholung des Volkes zu beeinträchtigen. Für die nicht wenigen Österreicher, die sich insgeheim beunruhigt fühlten, vermied man tunlichst präzisere Auskünfte dazu und gab sogar dem Schuleschwänzen am Freitag einen amtlichen Segen. Fragen, die auf längere Sicht, auf jenseits von ein paar Monaten, abzielen, wurden beruhigend abgetan: 
Die schönen Tage am Strand oder auf den Bergen sind aber nun vorüber. Die Schlacht ist geschlagen. Die HeldInnen ziehen sich aus dem gelegentlich peinlichen Hautkontakt „mit dem Volk“, „mit den Menschen draußen“ zurück in neonbeleuchtete Büros, wo die glänzende Zukunft ein bisschen blasser und kantiger erscheint. 
Das 21. Jahrhundert konfrontiert die heutige Generation der Menschheit mit epochal geänderten Rahmenbedingungen. Von Bevölkerung und Politik werden sie auf den ersten Blick als Störung des selbstverständlich gewordenen wirtschaftlichen Fortschritts wahrgenommen. Erschwerend wirkt, dass es sich um einen ganzen Komplex an Herausforderungen handelt, deren Ursachen nicht unbedingt miteinander zu tun haben, aber die schwer zusammenwirkend auf uns wirken werden und die auf längere Sicht eine schicksalhafte Rolle spielen, länger als für eine mitteleuropäische Legislaturperiode. 
Ihr Zusammenwirken wird in Zukunft ähnlich tiefe Wirkungen entfalten wie das neue heliozentrische Weltbild, das Nicolaus Copernicus im 16. Jahrhundert der Menschheit gegen zahlreiche Widerstände servierte. 
Diesmal ist es eine junge Schwedin, die die Jugend der Welt zum Streik des Schulunterrichts jeweils am Freitag aufruft: „Ihr Eltern raubt uns unsere künftigen Lebensmöglichkeiten, indem ihr unsere Erde verwüstet. Trump ist Euer Anführer.“ Der Vorwurf ist nicht in jeder Hinsicht wissenschaftlich gut begründet. Vor allem vereinfacht er die tatsächlich äußerst komplexe Perspektive. Aber im Kern ist er ähnlich ernst zu nehmen wie die Feststellung, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt. 
Der Blick zurück in meine eigene Schulzeit löst bei mir regelmäßig Dankbarkeit und Nostalgie aus: Das Schauspiel des Euripides „Die Bakchen“, das derzeit im Burgtheater auf dem Programm steht, führten wir in Altgriechisch in der Klasse auf. Das ist schon was. Aber wenn ich mir nüchtern vor Augen führe, was die moderne Zeit und eine im dichten Nebel liegende Zukunft an völlig neuen Orientierungen, Technologien, Organisation des Zusammenlebens und Sinnfragen für die Gestaltung des Lebens bereithalten wird, wird mein Rückblick zwiespältig: Ich neige nicht dazu, das Kind mit dem Bade auszuschütten: Unser traditionelles Bildungssystem weist sehr wertvolle Elemente auf, die gerade in einer technokratisch dominierten Welt dem Leben Sinn geben. Aber eine radikale Überprüfung des im Kern noch aus dem vorvorigen Jahrhundert überlieferten Bildungssystems und dessen Überführung in die Welt des 21. Jahrhunderts ist überfällig. Vordringlich, dass die durch das Wahlergebnis gestärkte Regierung dem Thema „Bildung“ jeden möglichen Vorrang einräumt. Da geht es nicht nur um Lehrverpflichtung, Klassenschülerhöchstzahlen, Migranten und neue Didaktik. Davon sind jedenfalls auch nachhaltige Vorteile für den „Wirtschaftsstandort Österreich“ zu erwarten.
Die explosiv zunehmende Zahl an Zukunftsdeutern und Consultants zerfällt heute, vereinfacht gesehen, in zwei Lager: In eine Mehrheit derjenigen, die drohende Klima- und Umweltkatastrophen ausmalen, woraus ein Umbau des Energie-, des Wirtschafts- und des Gesellschaftssystems abgeleitet wird und die Nachfrage nach mehr Consulting-Leistungen folgt. Und in eine kleinere Zahl solcher, die ein neues Goldenes Zeitalter heraufziehen sehen: Dieses würde von der enorm raschen Verbreitung neuer, digitaler Technologien und der künstlichen Intelligenz angetrieben.
Am besten könne man das am Eifer der Generation der Millenials, ihrer Risikofreude und ihren Start-Ups ablesen, beneidete der unlängst verstorbene französische Philosoph Michel Serres die Möglichkeiten der heutigen Jugend. Er nennt sie „Däumelinchen und Däumlinge“, weil sie andauernd mit dem Daumen auf dem Mobiltelefon, ihrem Universal-Lebensgerät, wischen. Ihm ging die oft gedankenlose Verklärung früherer Verhältnisse im Vergleich zu den heutigen so sehr auf die Nerven, dass er kurz vor seinem Tod in einem „letzten Wutanfall“ fragte: „Was genau war früher besser?“
Aber wir müssen wohl auch fragen, was können wir unter den Verhältnissen der Zukunft besser machen? Könnte nicht die Wissenschaft mehr Hilfe anbieten, als sich in Widersprüche und Streit zu verwickeln? Mir fehlt eine plausible Erklärung, warum die einschlägigen Wissenschaften noch kaum versuchen, das welthistorische Zusammentreffen der Umweltprobleme mit dem fantastischen Siegeslauf digitaler Technologien, die beide eine neue Epoche mit sich bringen, zu konfrontieren. Das betrifft nicht nur Ökologen, auch nicht nur die Ökonomen, sondern Politik-, Sozial- und Kulturwissenschaftler, Psychologen und nicht zuletzt Ethiker und Philosophen. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die Umgestaltung der Lebensverhältnisse, in die wir eingetreten sind, ein unerhört komplexer systemischer Vorgang ist, der traditionelle Denkmodelle überfordert. Vielleicht ist gerade diese Situation eine Erklärung für die weltweite Krise der Politik. Schade, dass es Michel Serres nicht mehr gibt. Aber immerhin können wir jetzt – neben den unvermeidlichen Ansprüchen, die die Tagespolitik einfordern wird (und unbeeinträchtigt von Skandalen) – Weitblick einer neuen, gestärkten, noch unverbrauchten Regierung erwarten. 

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