Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Shanghai – Bregenz: 8.900 Kilometer

Juni 2021

Unlängst stellte Armin Assinger in der Millionenshow einer Kandidatin die Frage: „Welche der folgenden vier Städte ist in der Luftlinie am weitesten von Bregenz entfernt: 1. München, 2. Nizza, 3. Venedig, 4. Wien?“ Nach einiger Überlegung legte sich die befragte Wienerin auf Nizza fest. Als darauf Assinger das Faktum mitteilte, dass Nizza 460 Kilometer von den Gestaden des Bodensees entfernt liegt, Wien hingegen 500 Kilometer: Blankes Erstaunen: „Aber Bregenz und Wien liegen doch im gleichen Land.“ Venedig und München liegen übrigens (Luftlinie!) gleich weit, aber bedeutend kürzer: 300 Kilometer. 
Natürlich ist die Luftlinie nur sehr eingeschränkt für wirtschaftliche, aber auch für politische oder kulturelle Beziehungen brauchbar. Immerhin spielen bei den Bregenzer Festspielen nicht die Musiker des Orchestre Philharmonique de Nice, sondern traditionell die Wiener Symphoniker. Die scheuen die weite Anreise nicht, hoffen wir, dass sie die Luftveränderung an den Bodensee genießen (Immerhin übertrifft der Blick vom Pfänder jenen vom Riesenrad auf den Donaukanal). 
Verlassen wir die kleine europäische Welt und sehen uns auf dem Erdball um: Wirtschaftliche Verbindungen zwischen den Kontinenten haben in den letzten Monaten aus mehreren Gründen Aufsehen erregt: Immerhin gelang es der Pandemie, nationale und interkontinentale Grenzen ohne weiteres zu überwinden, während Wirtschaftsverbindungen sehr wohl unterbrochen wurden. Dies machte das enorme Wachstum des Güteraustauschs in den letzten Jahrzehnten und das Risiko von möglicherweise störungsanfälligen Lieferketten zwischen Asien und Europa bewusst. 
Der Unfall eines riesigen Containerschiffs im Suezkanal und die tagelange Sperre, die hunderte Frachtschiffe in beiden Richtungen blockierte, hat anschaulich vor Augen geführt, wie abhängig vor allem die europäische Wirtschaft von der „schwimmenden Seidenstraße“ ist. Der Verkehrssektor verursacht weltweit rund ein Viertel der Treibhausgasemissionen. Der größte Teil davon stammt vom Straßenverkehr. Die rasche Verlagerung der industriellen Produktionsstandorte nach Ost- und Südasien hat jedoch die interkontinentalen Transporte, vor allem mit Containerschiffen sehr rasch expandieren lassen. Der Verkehr ist einseitig: Die Schiffe fahren haushoch beladen nach Europa, aber nur viel weniger beladene Container zurück nach Asien. Sie nehmen daher Meerwasser als Ballast mit. 
Von den zehn größten Containerhäfen der Welt liegen acht an der Küste Chinas (einschließlich Hongkong), einer in Südkorea, einer in Singapur und erst der elfte in Europa (Rotterdam). Allerdings zeichnen sich Veränderungen in der Güterstruktur und Standortgunst in China ab: Der Containerumschlag hat zwischen 2010 und 2019 in Hongkong um 20 Prozent abgenommen, jener im benachbarten Shenzhen nur um zehn Prozent zugenommen. Im größten Containerhafen der Welt, in Shanghai, werden aber immer noch dreimal so viele Standard-Container umgeschlagen wie in Rotterdam, dem größten Hafen Europas. 
Die Signale, dass für die Auslagerung von Fertigungsstufen der Industrie nicht mehr überall die geringeren Lohn-, Sozial- und Umweltkosten die entscheidende Rolle spielen, sondern dass früher gewachsene Industrien in China allmählich mit dem „europäischen“ Kostenniveau rechnen müssen, werden deutlicher. Ganz abgesehen von politischen Differenzen. Auch Standorte in Osteuropa werden für Investitionen interessanter, wie die beabsichtigte Verlegung des traditionsreichen MAN-Werks von Steyr nach Polen zeigt. 
Im Kalkül der Kosten von Industriestandorten spielen Transportkosten eine bescheidene Rolle. Umweltpolitisch ist gerade dies eine auf Dauer unerträgliche Situation: Die Hochseeschiffe verbrennen billiges Schweröl, das Luft und Meerwasser verpestet. Ihr Antrieb kann jedoch nicht auf Elektrizität umgestellt werden, wie das für die auf Schienen rollende „Seidenstraße“ von China nach Westeuropa vorgesehen ist: Endpunkt dieser Hochgeschwindigkeitsbahn wäre in Duisburg am Rhein, 480 Kilometer vom Bodensee. 
Bei solchen Projekten kann ich nicht vermeiden, an meinen Vater selig zu denken: Seiner Fantasie schien eine durchgehende Bodensee- und Flussschiffahrt von Bregenz nach Rotterdam erstrebenswert. Der Rheinfall bei Schaffhausen müsste allerdings auf einem schiffbaren Kanal umgangen werden. Dagegen wendete sich jedoch das naheliegende Interesse der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), das die Verlagerung von Transporten auf Schiffe erfolgreich unterband. 
Ökologische Sorgen über die klimaschädlichen Emissionen ergeben sich aus einem Übergangsstadium der Wirtschaftsentwicklung: aus einer Epoche, in der materieller Güteraustausch von Hardware aller Fertigungsstufen noch die weltweite Arbeitsteilung beherrscht. Erst in Ansätzen wird er vom Austausch von Dienstleistungen ersetzt. Doch die Signale in dieser Richtung sind eindeutig: Die digitale Revolution und die mit ihr neu geschaffenen Dienstleistungen, deren Konsequenzen uns täglich beinahe schon mehr beschäftigen als die Umweltbelastung, sind ein untrügliches Vorzeichen einer kommenden Epoche. Das muss nicht das Ende der Industriewirtschaft bedeuten: transportiert werden die besseren Ideen, nicht die schwereren Frachten.

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