Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

Der Fluch der Digitalisierung

Mai 2020

Für manch einen Autor oder eine Autorin kommt die Aufforderung der Vorarlberger Landesbibliothek doch zwei Exemplare seines oder ihres neu erscheinenden Buches kostenlos an die Bibliothek abzuliefern, meist überraschend. Viele sind zuerst erstaunt, dann jedoch mehrheitlich erfreut, dass das Druckwerk an einem Ort sicher verwahrt, für die Allgemeinheit zugänglich gemacht und der Nachwelt überliefert wird. Der Vorgang war in der analog geprägten Bücherwelt so einfach und tausendfach praktiziert, hatte doch der Gesetzgeber schon 1981 im Österreichischen Mediengesetz, §43, geregelt, dass „von jedem Druckwerk, das im Inland verlegt wird oder erscheint, der Medieninhaber (Verleger) eine durch Verordnung zu bestimmende Anzahl von Stücken an die Österreichische Nationalbibliothek und an zu bestimmende Universitäts-, Studien oder Landesbibliotheken abzuliefern hat.“ Das umfasst sowohl sämtliche im jeweiligen Bundesland erscheinenden Bücher als auch die zahlreichen Zeitschriften, zu denen etwa Gemeinde- und Pfarrblätter oder Parteienpublikationen gehören. Das macht für Vorarlberg ungefähr 500 bis 700 Bücher pro Jahr und mehr als 550 Zeitschriften, die unentgeltlich an die Bibliothek abgeliefert werden müssen. Diese werden dann in der Bibliothek katalogisiert und dürfen an jedermann ausgeliehen werden.
Der besagte Paragraph ist bis heute ein geeignetes Mittel, die analoge, landeskundliche Sammlung der Vor­arlberger Landesbibliothek laufend zu ergänzen und damit das veröffentlichte kulturelle Erbe des Landes vollständig zu sammeln. Die ursprüngliche Motivation der verpflichtenden Abgabe war allerdings nicht kulturell oder bibliothekarisch, sondern zutiefst machtpolitisch, so diente sie der politischen und religiösen Zensur. Schon im 16. Jahrhundert mussten in Österreich vor dem Erscheinen einer Publikation bis zu fünf Kopien an den Wiener Reichshofrat abgegeben werden, wo kontrolliert wurde, ob der Inhalt der Schriften mit den Reichsgesetzen in Einklang stand. Nach der erfolgten Überprüfung der Rechtmäßigkeit wurden die Bücher der Hofbibliothek in Wien, der heutigen Nationalbibliothek, übergeben, die damit ihre Bestände erweiterte. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie sprach ab 1922 ein neues Pressegesetz von Pflichtstücken: Es kümmert sich nun hauptsächlich um die Vollständigkeit der Sammlungen. Das aktuelle Mediengesetz hilft zwar bei der Beschaffung inländischer Publikationen, garantiert aber keineswegs die Vollständigkeit der landeskundlichen Sammlung. So wandert etwa das Pflichtexemplar des Münchener Hanser Verlags, in dem Michael Köhlmeier seit vielen Jahren publiziert, nicht nach Bregenz, sondern in die Bayerische Staatsbibliothek nach München. Hier kann natürlich nur ein regulärer Ankauf die Bestandslücke schließen.
Mit der Digitalisierung, dem Aufkommen von E-Books, E-Journals usw. werden alle im analogen Zeitalter bewährten Regelungen ganz grundsätzlich in Frage gestellt und zum Teil außer Kraft gesetzt. Nachdem die Speicherung von landeskundlichen Inhalten aus dem Internet bereits 2005 geregelt wurde, wartet Österreich bis heute auf ein Gesetz, das die Abgabe von e-Publikationen regelt. Der Entwurf, der seit etlichen Jahren diskutiert wird, aber durch diverse Regierungswechsel bisher noch nicht zum Gesetz werden konnte, sieht tiefgreifende Änderungen vor. Berechtigterweise haben in den Verhandlungen Verleger und Autoren die Befürchtung geäußert, dass eine Abgabe eines digitalen Mediums an eine Bibliothek zu einer unkontrollierten Verbreitung führen und damit ihre Gewinne schmälern könnte. Daher sind im neuen Gesetz Nutzungsbestimmungen vorgesehen, die den Zugang zu den Materialien restriktiv beschränken. So darf der Zugang zu den pflichtgemäß abgegebenen elektronischen Medien nur in den Bibliotheksräumlichkeiten sowie zum selben Zeitpunkt nur einem Benutzer der betreffenden Bibliothek gewährt werden. Kopien auf Papier sollen nur auszugsweise erlaubt sein, das Kopieren auf andere digitale Träger ist gänzlich verboten. Das digitale Verbot gilt auch für das „Abfotografieren mit dem Mobiltelefon“, was in letzter Konsequenz die Abgabe von Kameras aller Art beim Bibliotheksbesuch bedeuten könnte.
Die digitale Herstellung und Verbreitung von Druckwerken führt also auch im vordergründig so beschaulichen Bereich der landeskundlichen Sammlung zu tiefgreifenden Änderungen. Da elektronische Medien auch hier im Vormarsch sind, ist die langfristige Qualität nicht garantiert, da sich einerseits die Langzeitarchivierung von Dokumenten erst bewähren und anderseits auch die allgemeine Zugänglichkeit schwer erkämpft werden muss. Die zutiefst demokratische Funktion der Bibliotheken, nämlich Wissen der gesamten Bevölkerung ungeachtet der gesellschaftlichen Position und Einkommen kostengünstig zukommen zu lassen, wird in einer zunehmend digitalen Welt auf eine harte Bewährungsprobe gestellt werden.

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