Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

Wir sind Böhler

Juni 2024

Diesen Slogan plakatierten die Bediensteten des Lorenz-Böhler-Krankenhauses, unlängst in „Traumazentrum Wien, Standort Brigittenau (Lorenz Böhler)“ umbenannt, um ihrem Protest Gehör zu verschaffen, da ihr Krankenhaus ohne Vorwarnung geschlossen werden sollte, da angeblich der Brandschutz nicht mehr gewährleistet sei. Lorenz Böhler (1885-1973), aus Wolfurt stammend, würde sich im Grab umdrehen, wenn er in dem nach ihm benannten Krankenhaus derartige Entwicklungen miterleben müsste, war er doch ein ausgesprochenes Organisationstalent und ein Meister der Improvisation. Seine Stärke war es, medizinische Kompetenz und effiziente Arbeitsabläufe zum Wohle der Patienten zu verbinden. Daher gilt er wohl zu Recht als Pionier der modernen Unfallchirurgie, der durch zahlreiche Innovationen in seinem Fach auch internationale Bedeutung erlangte.
An dieser Stelle sei nicht auf seinen facettenreichen Lebenslauf eingegangen, weder auf seine Kindheit in Wolfurt und seine lebenslange Beziehung zu seiner Heimatgemeinde, noch auf seine fragwürdige Rolle im Nationalsozialismus, die seiner Karriere nach dem 2. Weltkrieg aber keinen Abbruch tat. Vielmehr soll es hier von der innovativen Kraft Böhlers handeln, die allerdings nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern eingebettet in das sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Umfeld der Zeit. 2010 analysierte Thomas Schlich, Professor an der McGill-Universität zu Montreal, im Katalog der Lorenz-Böhler-Ausstellung der Vorarlberger Landesbibliothek das medizinhistorische Umfeld Böhlers.
Bei der Rationalisierung von Arbeitsprozessen gelten die Amerikaner Frederick W. Taylor (1856-1915) und Henry Ford (1863-1947) als die entscheidenden Vordenker. Während Taylor um 1890 in der Midvale-Steel-Company bei Philadelphia begann, Produktionsprozesse in kleinste Arbeitsschritte zu zerlegen, fand wenig später in Detroit das Fließband Eingang in die Autoproduktion von Ford. Ähnliche Prinzipien wurden auch ins amerikanische Gesundheitswesen übernommen, was dazu führte, dass Krankenhäuser nicht mehr traditionelle Wohlfahrtseinrichtungen blieben, sondern sich immer mehr als „Werkstätten von Ärzten“ und „Gesundheitsfabriken“ verstanden. Lorenz Böhler konnte sich 1914 einer Exkursion deutscher Ärzte nach den USA anschließen und war besonders von der Mayo-Klinik in Rochester/Minnesota beindruckt, die schon damals vermehrt auf Spezialisierung setzte. Die Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse im zivilen Gesundheitswesen blieb Böhler allerdings vorerst verwehrt, da nach seiner Rückkehr in Europa unmittelbar der 1. Weltkrieg begann, der Böhler zunächst als Arzt an die Front nach Galizien und später in ein Lazarett nach Südtirol führte. Von Beginn an lautete dort sein Grundprinzip: „Wenn schon eigene Maschinen konstruiert werden, um möglichst viele Knochen zu zertrümmern, dann muss auch die Heilung großzügig durchgeführt werden.“
Der Krieg bot dem jungen Arzt ungeahnte Möglichkeiten, seine theoretischen Überlegungen an einer Vielzahl von Patienten in der Praxis zu erproben. So behandelte Böhler nach seinen eigenen Aufzeichnungen während der zwei Jahre, die er an der Front verbrachte, fast 30.000 verletzte Soldaten. Der entscheidende Ansatz Böhlers war wohl, die individuelle Behandlung der Patienten durch eine fast auf industriellem Niveau agierende Massenanwendung zu ersetzen. Die Grundlage seines Systems war die von ihm so genannte Einheitsbehandlung, was bedeutete, dass alle Patienten mit jeweils bestimmten Verletzungen (z.B. Oberschenkelbruch) mit genau denselben Instrumenten behandelt und von einer Krankenschwester betreut werden, die für die jeweilige Verletzung ausgebildet war. Sogar die Belegung der Krankenzimmer wurde zugunsten des neuen Konzepts geändert. Im Gegensatz zu den meisten anderen Krankenhäusern der Zeit wurden bei Böhler Patienten je nach Verletzung in eigene Zimmer aufgeteilt und dort behandelt. Daher sahen die Räume, in denen die Einheitsbehandlung praktiziert wurde, wie Gesundheitsfabriken aus.
Sie waren alle mit den gleichen Apparaten und Instrumenten ausgestattet, und im Idealfall sollten auch dieselben Heilungserfolge erzielt werden. Neben der Standardisierung der Einrichtung wurde – wo immer möglich – rationalisiert, um Zeit und Personal einzusparen. So besuchte Böhler in seinem Südtiroler Lazarett jeden Patienten zwei Mal am Tag, wobei er sich für einen Unterschenkelbruch 30 Sekunden, für einen Oberschenkelbruch zwei Minuten Zeit nahm. Alle diese Maßnahmen immer unter dem Gesichtspunkt gesehen, dass in den schwierigen Zeiten des Krieges eine enorme Knappheit an Finanzen und Personal herrschte, die nur durch Effizienzsteigerung kompensierbar war. Böhler erzielte mit seinen unkonventionellen Methoden in Südtirol beachtliche Erfolge, stellte ihm der Krieg doch einen „geschützten“ Raum bereit, in dem er seine Innovationen entwickeln und ausgiebig testen konnte. Trotz intensiver Bemühungen gelang es ihm aber nicht, seine Methoden auf die ganze österreichische Armee zu übertragen. Denn er war jung, unerfahren und bekannt dafür, Hierarchien zu ignorieren, was dazu führte, dass seine Vorschläge meist abgelehnt wurden.
Ganz anders die Situation nach dem Ersten Weltkrieg. Das alte Österreich-Ungarn war zerfallen und nach ein paar turbulenten Jahren war das „Rote Wien“ ein ideales Umfeld für Böhler, da die soziale Absicherung ein wichtiges Ziel war, das auch den Ausbau der Unfallversicherung miteinschloss. Böhlers Argument, dass es für die Versicherung auf lange Sicht viel günstiger sei, in die Gesundheitsversorgung zu investieren als den Opfern schlampiger Behandlungen lebenslang Pensionen auszuzahlen, fiel auf fruchtbaren Boden. So stellte die Arbeiterunfallversicherung (AUVA) Böhler in der Wiener Webergasse ab 1925 ein neu errichtetes Spezialkrankenhaus zur Verfügung. Der Erfolg gab ihm recht, da sich die versprochenen Heilungserfolge tatsächlich einstellten und die Arbeitsunfähigkeit nach Unfällen signifikant gesenkt werden konnte. Das Krankenhaus am Donaukanal wurde daher schnell zu einer Pilgerstätte für Unfallchirurgen aus aller Welt, die vor allem von der perfekten Organisation der Arbeitsabläufe beeindruckt waren. Zur weiteren Verbreitung seiner Lehre trug seine wichtigste Publikation „Die Technik der Knochenbruchbehandlung“ bei, die in russischer, französischer, englischer, polnischer, spanischer, italienischer, ungarischer und chinesischer Übersetzung vorliegt. Im Vorwort zur englischen Ausgabe heißt es, „dass die richtige Behandlung von Knochenbrüchen nicht nur ein wissenschaftliches Problem oder eine philanthropische Pflicht ist, sondern eben auch ein Geschäftsmodell. Mit anderen Worten, es zahlt sich aus, Knochenbrüche gut zu behandeln.“

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