Wolfgang Weber

Er etablierte 2003 die Grundlagenlehr­veranstaltung „Politische Bildung“ für Lehramtsstudierende in Geschichte und Sozialkunde an der Universität Innsbruck. Neben der Lehre ist seine Fachexpertise als demokratiepolitischer Bildner auch in Vermittlung und Forschung gefragt, etwa bei Ausstellungsprojekten mit Klassen der Mittelschule Lauterach (2006) und des Bundesgymnasiums Lustenau (2008) und gegenwärtig als Fachexperte im EU-finanzierten Forschungs- und Vermittlungsprojekt „World Class Teacher“ mit Standorten in England, Österreich, Polen und der Slowakei.

Zwei vergessene Republiken: Alpenland & Mittelberg

Mai 2019

Wenige Tage vor Unterzeichnung des Friedensvertrages in St. Germain erschien in der Zür-cher humoristischen Wochenzeitung „Nebelspalter“ unter der Überschrift „Pariser und ande-re Torten“ eine Karikatur, in welcher der Schweiz in einem Speiselokal von einem Herrn mit französischem Vornamen das Vorarlberg und der Völkerbund als Süßspeise angeboten wer-den.

Die Helvetica reagiert in dieser Karikatur auf das Angebot zurückhaltend und mit der Nachfrage, ob die beiden Tortenstücke Vorarlberg und Völkerbund denn auch gut verdaulich seien. Die Gründe für diese Zurückhaltung waren keineswegs die Größe der beiden Süßspeisen, sondern vielmehr politische Überlegungen. Sie wurden in der April-Nummer von „thema vorarlberg“ durch Céline Rüttimann und Daniel Segesser dargelegt. Hier soll es darum gehen, welche anderen Offerte es 1919 und in den Folgejahren für das Kuchenstück Vorarl­berg noch gab. 
Das bekannteste Angebot neben dem Beitritt zur Schweiz war jenes des sogenannten Schwabenkapitels. Die Vertreter dieser Bewegung strebten einen Anschluss von Vorarlberg an Deutschland an. Sie bemühten dafür ähnliche ethnische Argumente, wie es die Schweiz-Befürworter auf beiden Seiten des Rheins im Gefolge der Propaganda um die Volksabstimmung vom 11. Mai 1919 taten: Nur wurden in diesem Fall die Vorarlberger nicht als schweizerische Walser, sondern als deutsche Schwaben ideologisch verklärt. 

Das vermeintlich gemeinsame walserische Blut war dreieinhalb Jahre nach der politisch gescheiterten Beitrittsbewegung der Anlass, dass in der Schweizer Presse das Vorarlberg erneut in die Schlagzeilen kam; so wie auch in der Vor­arlberger Presse. Am 4. November 1922 berichtete das konservative „Vorarlberger Volksblatt“ unter Hinweis auf die gemeinsame walserische Abstammung auf Seite 1, dass in Mittelberg im Kleinen Walsertal nach Berichten aus der Schweiz eine eigene Republik entstehen solle, ein „deutsches Monaco“. Dort würden deutsche und englische Finanziers Gelder für den Bau eines Spielcasinos, von Hotels und Plätzen für den Sommer- und Wintersport investieren. 

Der staatspolitische Hintergrund dieser Mittelbergischen Republikpläne waren über Monate andauernden Gerüchte über einen möglichen ökonomischen Zusammenbruch der jungen österreichischen Republik und eine aus der Konkursmasse zu erfolgende Zuweisung des Vorarlberg an Italien oder an die Schweiz. Die Genfer Protokolle vom 4. Oktober 1922 beendeten solche Spekulationen, spannten einen Rettungsschirm und garantierten die Existenz eines autonomen Österreich. Die 650 Millionen Goldkronen, welche Österreich damals zur Bewältigung seiner Finanzkrise von der internationalen Staatengemeinschaft Völkerbund erhielt, wurden bis 1980 zurückbezahlt. 

Vier Jahre zuvor war Österreich-Ungarn zusammengebrochen und neben Beitrittsplänen zu Deutschland und der Schweiz wurde von unterschiedlichen Seiten auch an kleinstaatliche Lösungen zur Aufteilung der deutschsprachigen Länder der Habsburgermonarchie gedacht. Im Januar 1919 berichteten etwa die „Innsbrucker Nachrichten“ von Plänen unter anderem des letzten k. k. Ministerpräsidenten Heinrich Lammasch, eine unabhängige sogenannte alpenländische Republik zu errichten, welche aus Kärnten, Teilen der Steiermark, Salzburg mit dem Berchtesgadener Land, Tirol, Vorarlberg und dem Liechtenstein bestehen sollte. Wobei das Liechtenstein als Teil Vorarlbergs der neuen Republik Alpenland beigetreten wäre und dort einen gemeinsamen Verwaltungskreis gebildet hätte. Die wesentliche militärstrategische Bedeutung einer solchen Republik wäre nach Ansicht der Zeitgenossen die Trennung von „Germanen, Romanen, Slawen“ sowie die Errichtung einer „Bergfestung“ unter dem Schutz des Völkerbundes, des Vorgängers der heutigen Vereinten Nationen, gewesen. Unter der NS-Diktatur wurde diese Idee dann in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges zur sogenannten Alpenfestung übersteigert.

Weniger martialisch betrachtet, wäre die Aufgabe einer Republik Alpenland jene eines neutralen Pufferstaates in der Mitte Europas gewesen. Vorarlberg wäre darin deswegen eine große Bedeutung zugekommen, da über sein Territorium die einzige durchgehende Eisenbahnverbindung von Paris im Westen nach Konstantinopel im Osten ging. Über sie erschlossen sich für die westalliierten Siegerinnen des Ersten Weltkrieges die Märkte in Ost- und Südosteuropa.

Wie wichtig die Rolle von Vorarlberg in dieser Alpenrepublik als Verkehrsdrehscheibe für die Verteilung der Industrie- und Landwirtschaftsprodukte der Republik eingeschätzt wurde, zeigt sich auch in einem im Frühjahr 1919 in Tirol publizierten Memorandum. Es proklamierte den Bau eines Rheinhafens am Bodensee und den Ausbau des Alpenrheins als Wasserstraße mit Hilfe einer Völkerbundfinanzierung. 1941 wurde dieser Vorschlag von der NS-Diktatur wieder aufgenommen, jedoch nicht verwirklicht. Zwischen 1948 und 1997 bemühte sich erneut ein Verein mit dem Namen „Österreichischer Rheinschifffahrtsverband“ mit Sitz in Bregenz um die Realisierung einer Wasserstraße – und scheiterte.

Sowohl die Republik Mittelberg als auch die Republik Alpenland waren vor 100 Jahren ernsthaft diskutierte Optionen für eine Neugestaltung Mitteleuropas nach dem Ersten Weltkrieg. Vorarlberg hatte darin seinen Platz – wie beim verhinderten Beitritt zur Schweiz, über den 81 Prozent der Wahlberechtigten im Mai 1919 zumindest Verhandlungen aufnehmen wollten.

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