Manfred Hämmerle

Direktor der BHAK und BHAS Bregenz und seit 30 Jahren in der Ausbildung für Lehr­personen, unter anderem an der WU Wien, tätig

Die zweite Welle

Juli 2021

Plädoyer für einen differenzierten Umgang mit dem Thema Digitalisierung der Schule.

Wir erinnern uns alle ungern: Die erste „Corona-Welle“ vor gut einem Jahr war ein „Bodenseewellchen“ im Vergleich zum „Ozean-Brecher“ im Herbst. Ähnliches gilt für die Digitalisierung der Schulen. Während der Einsatz digitaler Daten und der dazu notwendigen Medien am Beginn der Pandemie half, den Unterricht in einem bestimmten Maße aufrecht zu erhalten, braucht es jetzt einen geordneten Einsatz der digitalen Geräte, der sich an den Chancen und Risiken dieser Art des Lernens orientiert. Denn eines ist offensichtlich: Trotz des enormen Engagements vieler Beteiligter sind die Schwächen dieser Art des Lernens nicht zu übersehen. Das Bildungsministerium hat die Verteilung von Notebooks oder Tablets zugesagt. Das ist ein Anfang, um beispielsweise soziale Unterschiede auszugleichen. Es braucht allerdings viel mehr.

Didaktik des Lernens

Mit der Bereitstellung von digitalen Geräten ist die Frage des Zwecks, des Inhalts und der Methodik des Unterrichts nicht geklärt. Dies alles wird in entsprechenden Gesetzen und Lehrplänen festgelegt; und im Unterricht von der Lehrperson interpretiert und umgesetzt. Diese hat nach wie vor die zentrale Rolle. Sie braucht inhaltliche (Aus- und Fortbildung), aber auch materielle Unterstützung. Für den Umgang mit der Fülle von Informationen im Internet bedarf es der inhaltlichen Strukturierung und der didaktischen Aufbereitung. Sich ausschließlich auf Lernprogramme zu verlassen, wäre fatal, weil die Interpretation und die Diskussion der Inhalte fehlten. Außerdem lernen Menschen grundsätzlich in der Gemeinschaft besser, weil Lernen sehr oft mit Emotionen verbunden ist. Das Lernen in der Gemeinschaft ist auch deshalb besonders wichtig, um einer zunehmenden Individualisierung entgegenzuwirken, die durch die Digitalisierung gefördert wird. Eine Konfrontation der Schüler/innen mit der „echten Welt“ ist deshalb äußerst wichtig.
›› Lehrpersonen organisieren dieses Lernen in der Gemeinschaft, die Geräte dienen als Werkzeug. Was bei vielen Betrieben üblich ist, muss auch für die Schule gelten. Auch die Lehrpersonen gehören mit entsprechenden Geräten ausgestattet. Außerdem muss die Frage der Betreuung der Geräte geklärt sein.
›› Schulbücher sind ein zentraler Teil der inhaltlichen und methodischen Umsetzung der vorgegebenen Ziele. Vor ihrem Einsatz im Unterricht werden sie professionell aufbereitet und begutachtet. Auch in sogenannten „Laptopklassen“ sollten sie ein wesentlicher Bestandteil des Unterrichts sein, weil Mindeststandards garantiert sind. Dazu ist eine digitale Ergänzung der Bücher notwendig. Diese Aufgabe erledigen manche Verlage schon vorbildlich. Die Schulbuchaktion muss in diesem Sinne weitergeführt und -entwickelt werden. 

Digitale Pausen und Gratiskultur

Mehrere Problembereiche greifen bei der Frage der Digitalisierung des Unterrichts ineinander. Wir sollten unseren Schüler/innen (und den Lehrpersonen) manches Mal eine „digitale Diät“ verschreiben. Dazu ein authentisches Beispiel: An einem Samstag um 17 Uhr kommt die WhatsApp Nachricht: „Ich habe Ihnen meine Aufgabe per Mail geschickt.“ Um 19 Uhr kommt die Nachfrage: „Haben Sie meine Aufgabe schon korrigiert?“ Dem Hinweis der Lehrperson, dass auch sie einmal eine Ruhepause benötige, folgt dann mitunter der Hinweis des Schülers, dass man es ja einmal probieren könne. Ein Großteil der Schüler/innen verbringt jeden Tag viele Stunden an einem digitalen Endgerät. Die Firma Facebook beherrscht mit ihren Plattformen WhatsApp, Instagram, Snapchat und Facebook selbst in einem gewissen Maße das Leben vieler Menschen. Ähnliches gilt für Google, Apple, Microsoft, Netflix oder Amazon. Dabei geht es auch um ganz subtile Beeinflussung wie beispielsweise die blauen Häkchen bei WhatsApp. Sie bestätigen, dass der Empfänger die Nachricht erhalten hat. Der Zweck aus Sicht von Facebook ist die Bindung an dieses Programm und das Sammeln von Daten. Es ist aber auch ein massiver Eingriff in die Privatsphäre von Menschen. Die „Flucht“ vieler Menschen vor WhatsApp in Richtung „Signal“ ist etwas naiv. Es ist nicht davon auszugehen, dass bei Signal „die Samariter aufmarschiert“ sind, um umsonst für uns zu arbeiten. 
Wenn es so wäre, wäre das auch nicht gut, weil bei allem, was „gratis“ ist, auf der anderen Seite das Einkommen fehlt. Es kann nicht im Interesse des Staates sein, die Gratiskultur zu fördern. Den Lernenden sollte erklärt werden, dass es Geld kostet, ordentliche Inhalte zu erarbeiten. Mit diesem Phänomen kämpft ja auch der Qualitätsjournalismus. Der Staat muss (neben der oben erwähnten Schulbuchaktion) entweder Voraussetzungen schaffen, dass die Daten der Schüler/innen geschützt sind, beispielsweise mit Verträgen, oder eigene Plattformen schaffen. Langfristig wird es aber auch als wichtige Aufgabe von Lehrpersonen gesehen werden, die Welt neben der digitalen Welt zu zeigen, wie beispielsweise Bücher und Zeitungsartikel zu lesen, sich in der Natur zu bewegen oder schlicht den Lehrstoff an der Tafel zu erarbeiten. Sie sollen also digitale Pausen schaffen, um dabei Erfolgserlebnisse ohne „Likes“ zu erzeugen.

Sowohl als auch

Sowohl allzu große Euphorie hinsichtlich des Einsatzes digitaler Geräte in der Schule als auch deren strikte Ablehnung sind kritisch zu betrachten. Es ist beispielsweise beim Fach Mathematik zu beobachten, dass klassische Kulturtechniken wie das Schätzen, das Verstehen der Aufgabe oder das schlichte Rechnen ohne Technologie wieder gefördert werden. Diese sind erwiesenermaßen sehr hilfreich, wenn es beispielsweise darum geht, komplexere Rechenoperationen durchzuführen oder Szenarien zu berechnen. Ähnliches gilt für andere Fächer, wie etwa Geografie. Sind (junge) Menschen heute noch im Stande, den Weg ohne GPS zu finden? Wird die holografische Revolution dazu führen, dass es zu einer „Augmented Realitity“ kommt, bei der die Menschen gar nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können? Schließlich müssen das Alter der Lernenden und das jeweilige Fach beachtet werden. Einem allzu frühen Einsatz digitaler Endgeräte stehen manche Wissenschaftler sehr kritisch gegenüber, weil dies die persönliche Entwicklung verhindere. In manchen Fächern ist der Computer das Thema oder das Mittel zur Bewältigung komplexer Probleme. Dort ist ein intensiver Einsatz unumgänglich. Einem jungen Menschen ein Gerät mit der Erwartung zur Verfügung zu stellen, dass dann automatisch ein/e Programmierer/in aus ihm wird, wird nicht reichen. Es braucht einen differenzierten Umgang mit dem Phänomen „Digitalisierung des Unterrichts“, um diese „zweite Welle“ zu nützen.

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