Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

Wer bist denn du?

März 2023

Mit dieser Frage erschüttert der Frosch das Gleichgewicht eines kleinen Wesens, das bis dahin so unbeschwert sein Leben verbrachte. Der Frosch fügt noch hinzu, dass man dumm sei, wenn man nicht wisse, wer man sei. Obwohl es so anders aussieht als all die Tiere, die ihm begegnen, sucht es nun Gemeinsamkeiten mit den Fischen, den Vögeln und den Pferden und anderen Tieren. Es möchte irgendwo dazugehören, muss aber immer wieder erkennen, dass es ganz anders ist, als all die anderen. Schließlich, schon ziemlich resigniert, erkennt es plötzlich: „Ich bin ich“. Nach dieser Selbsterkenntnis wird das kleine Wesen, nun nicht mehr namenlos und voller Selbstbewusstsein, nicht länger ausgeschlossen und bekommt zur Antwort: „Du bist du!“ Zufrieden mit sich selbst kann es sich nun auch wieder an den Annehmlichkeiten der Umgebung erfreuen: „Durch den Park auf allen vieren, geht das ICH-BIN-ICH spazieren, freut sich an der schönen Welt, die ihm wieder gut gefällt.“
Das „Kleine ICH-BIN-ICH“ ist ein internationaler Dauerbrenner der Kinderliteratur, in unzähligen Übersetzungen aufgelegt, mittlerweile 51 Jahre alt und insgesamt schon über eine Million Mal gedruckt. Ein Ende der Erfolgsstory ist nicht in Sicht, werden doch pro Jahr immer noch etwa 30.000 Exemplare verkauft. Zuletzt erschien 2022 aus aktuellem Anlass eine gesponserte zweisprachige ukrainisch-deutsche Version, die an geflüchtete Kinder verteilt wurden, einige Jahren zuvor eine viersprachige deutsch-kroatisch-serbisch-türkische sowie eine deutsch-arabisch-farsi Ausgabe. Die Suche nach dem Selbstbewusstsein und der Akzeptanz durch die Umgebung ist offenbar ein zeitloses Thema, das alle Modeströmungen unbeschadet überdauert. Die Mütter des „Kleinen ICH-BIN-ICH“ sind Susi Weigel (1914-1990) und Mira Lobe (1913-1995), absichtlich einmal in dieser Reihenfolge genannt, denn meist stand die Illustratorin im Schatten der viel bekannteren Schriftstellerin. Sehr zu Unrecht, denn in diesem Fall – so wird überliefert – stammte die Idee für das Buch vermutlich von der Illustratorin, denn ihre geliebte Kinderfrau – in höherem Alter etwas verwirrt – habe sich selbst immer wieder gefragt: „Wer bin ich – ich bin ich?“ Dieses Erlebnis habe sie nicht mehr losgelassen, da ihr bewusst wurde, dass es Kindern ähnlich gehen muss, wenn sie auf der Suche nach der eigenen Identität sind. 
Vor 15 Jahren wusste in Vorarlberg kaum jemand, dass die erfolgreiche Illustratorin Susi Weigel fast 40 Jahre unscheinbar in Bludenz gewohnt hatte. Es ist zwei Frauen zu verdanken, dass die Leistungen der bescheidenen Illustratorin honoriert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Auf der einen Seite einer Wiener Literaturwissenschaftlerin, die eine erstmalige Studie über Weigel verfasste, auf der anderen Seite die Erbin ihres Nachlasses, die bis heute unermüdlich bestrebt ist, die Botschaft Weigels in die Welt hinaus zu tragen. Sie war es auch, die der Vorarlberger Landesbibliothek eine große Anzahl Susi-Weigel-Bücher übergeben hat. Die Früchte dieser Aktivitäten sind vielfältig: so gibt es in Wien seit 2019 eine Susi- Weigel-Gasse, in Bludenz seit 2013 einen Susi-Weigel-Kindergarten und es konnten im Frauenmuseum Hittisau sowie in Bludenz, Wien und Bregenz großartige Ausstellungen bewundert werden. 
Susi Weigel war freilich keine gebürtige Vorarlbergerin, sondern wurde 1914 in Proßnitz, heute Prostějov im tschechischen Mähren geboren. Sie stammte aus einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie und es wurde ihr ein Studium an der renommierten Kunstgewerbeschule in Wien ermöglicht. Sie übersiedelte nach der Ausbildung nach Berlin, wo sie sich als Zeichnerin für Trickfilme einen Namen machte. Nach dem 2. Weltkrieg kehrte sie nach Wien zurück, wo sie für den kommunistischen Globus-Verlag das Kindermagazin „Unsere Zeitung“ illustrierte. Hier begann auch die langjährige Zusammenarbeit mit Mira Lobe, die 1936 mit ihrer jüdischen Familie nach Palästina emigriert war, dann sich aber nach dem Krieg in Wien niederließ. Schon 1952 übersiedelte Susi Weigel nach Vor­arlberg (zunächst nach Langen am Arlberg und dann nach Bludenz), da sie in zweiter Ehe den Vorarlberger ÖBB-Beamten Heinrich Mair geheiratet hatte. Die Zusammenarbeit zwischen Schriftstellerin und Illustratorin hat aber offensichtlich nicht an der räumlichen Entfernung gelitten: gegenseitige Besuche und zahlreiche Briefe überbrückten die Distanz. 1967 schilderte Mira Lobe in einem Brief an Susi Weigel das gemeinsame Erfolgsgeheimnis: „Eigentlich müssten uns alle Verleger auf den Knien danken, finde ich – für unser P-S. Das heißt weder Post scriptum noch Pferde-Stärken, sondern Plan-Sorgfalt ist unser Geheimnis – ich meine unser Erfolgsgeheimnis. Denn irgendwie muss es doch daran liegen, Susinka, weil es ja doch genug Leute mit Ideen und Schreibtalent gibt und Ideen und Maltalent, aber eben das gemeinsame P-S ist selten.“ Insgesamt entstanden so fast 50 gemeinsame Kinderbücher, wobei die Partnerschaft nicht exklusiv war, publizierten doch beide auch mit anderen Schriftstellern und Illustratorinnen. Die weltanschauliche Heimat blieb dabei immer das „Rote Wien“, vertreten durch den Jungbrunnenverlag, der sich im Besitz der Kinderfreunde, einer Vorfeldorganisation der SPÖ, befand. Neben ihren Zeichnungen für Kinderbücher entwarf Susi Weigel punktuell auch Gebrauchsgrafik, wie Banderolen für Milka-Produkte oder eine Wandmalerei an der Fassade der Volksschule Klösterle, die die Geschichte des Klostertals zeigt. 
Obwohl sie nicht die öffentliche Anerkennung wie Mira Lobe erhielt, wurde auch sie mehrfach mit Preisen ausgezeichnet und 1986 erhielt sie den Berufstitel „Professor“ verliehen. Geehrt wurde sie für ihren experimentierfreudigen und unverwechselbaren Illustrationsstil, der unterschiedlichste Techniken in sich vereint: sie verwendet Buntstifte, Wasserfarben, Stempelverfahren und vieles mehr. Ein Berufskollege stellt dazu bewundernd fest: „Neu sind die spielerische Lockerheit, der Witz und die Dynamik ihrer Zeichnungen.“ Susi Weigel reduzierte sich meist auf einfache geometrische Formen, was es für Kinder so leicht macht etwa ein „Kleines ICH-BIN-ICH“ zu basteln.
Heute ist in Vorarlberg dafür gesorgt, dass das Erbe von Susi Weigel auch zukünftig in Ehren gehalten wird, so befindet sich ihr künstlerischer Nachlass im vorarlberg museum, wo ihre Werke auch in der Dauerausstellung präsent sein werden, eine große Anzahl ihrer Bücher finden sich in der Landesbibliothek. 

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