Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

1848 – Die vergessene Revolution?

Mai 2023
Vor 175 Jahren erschütterte die Revolution von 1848 Europa, den österreichischen Kaiserstaat und sogar Vorarlberg. Obwohl heute so viel von Gedenk- und Erinnerungskultur die Rede ist, scheint die 48er-Revolution kaum noch jemanden zu interessieren. Was bedeutet es, dass die einzige Veranstaltung in ganz Österreich, die sich 1848 mit einer Reihe von Vorträgen widmete, kürzlich in Lustenau stattgefunden hat?

Revolutionen, so hat Karl Marx einmal behauptet, sind die Lokomotiven der Geschichte. Ist das wahr? Haben solche Gewaltereignisse wirklich den sozialen Fortschritt vorangetrieben? Die Französische Revolution von 1789 beseitigte zwar das absolutistische Regime der Bourbonenherrscher, doch um den Preis eines bis dahin beispiellosen Terrors und der nachfolgenden Herrschaft Napoleons, der mit seinen Kriegszügen nicht nur die politische Landschaft Europas neu gestaltete. Sein großes Gesetzeswerk, der „code civil“, war zwar wegweisend, doch waren mit dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch in Österreich und dem Allgemeinen Landrecht in Preußen auch in absolutistischen regierten Monarchien ohne Revolution gesetzliche Reformprojekte in Gang gekommen, die gleichermaßen fortschrittlich wie unumkehrbar waren.
Und die Russische Revolution von 1917 setzte zwar der furchtbaren Zarenherrschaft ein Ende, etablierte aber keinen Musterstaat, sondern eine grauenhafte (kommunistische) Parteidiktatur. Nach wenigen Jahren begannen deren Eliten – gepeinigt von krankhaftem Misstrauen – sich zu zerfleischen und gegenseitig zu liquidieren. Das Experiment, in einem unterentwickelten Agrarstaat mit Gewalt eine gerechte Welt einrichten zu wollen, mündete in Hungersnöten, Schauprozessen, Deportationen und Massenmorden in unvorstellbarem Ausmaß. 
Vielleicht ist es als „Ironie der Geschichte“ zu verbuchen, dass ausgerechnet eine gescheiterte Revolution letztlich die erfolgreichste war, nämlich die von 1848. Die damals erhobenen Forderungen konnten nicht unmittelbar durchgesetzt werden, die aufbegehrenden Bürger und Studenten wurden von Militär- und Polizeigewalt in ganz Europa niedergeschlagen, teilweise füsiliert. Doch das nicht erfüllte Programm der Revolution wurde in den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten gegen alle reaktionären Widerstände verwirklicht: der Rechtsstaat mit Grundrechten für alle, vor allem die Pressefreiheit, demokratische Mitbestimmung, zuletzt das allgemeine und freie Wahlrecht, auch für Frauen. 
Was war 1848 geschehen? Die Revolution hatte viele Ursachen: ein problematisches Regierungssystem, bestehend aus einigen alten Herren, die als „Geheime Staatskonferenz“ das Habsburgerreich regierten. Da war insbesondere der Staatskanzler Clemens Metternich, der als „Fürst der Finsternis“ zur Symbolfigur der Repression und Reaktion geworden war, sein Gegenspieler Franz Anton Graf Kolowrat und zwei Erzherzöge. Kaiser Ferdinand, „der Gütige“, galt als geistig minderbemittelt, war jedenfalls regierungsunfähig. Die erwähnten Herren waren völlig zerstritten, einig nur gegen den Staatskanzler Metternich, den sie auch schon entmachtet hatten. Sie konnten auf die strukturellen, wie akuten Probleme nicht mehr adäquat reagieren.
Hinzu kam die Kartoffelkrankheit – der Winter 1847/48 wurde zu einem Hungerwinter – die zu einer Lebensmittelverteuerung führte, die wiederum eine Gewerbekrise nach sich zog. Weil die Bevölkerung plötzlich wesentlich mehr Geld für die Ernährung ausgeben musste, blieben die Handwerker, die Gewerbetreibenden und auch die Industriellen auf ihren Produkten sitzen. Parallel dazu überschwemmten billige Importwaren aus moderner maschineller Fertigung die Märkte. Das wiederum verschärfte die Verarmung der Arbeiter. Im städtischen Bürgertum, vor allem in den größeren Städten, wuchs die Unzufriedenheit mit der Zensur: Vor allem die Unternehmerschaft drängte auf eine Veröffentlichung des Staatshaushaltes, sie wollte endlich wissen, was mit ihrem Geld passierte. Außerdem intensivierten sich die nationalen Querelen in der Habsburger Monarchie, vor allem in Ungarn, aber auch in Ober­italien. 
Zunächst kamen aus Frankreich aufwühlende Nachrichten: Der König war zur Abdankung gezwungen, die Zweite Republik ausgerufen worden (sie sollte bis 1852 währen). Nun kam es auch in mehreren deutschen Staaten zu Erhebungen, vor allem aber in Ungarn. Der aus ungarischem Kleinadel stammende Anwalt und Politiker Lajos Kossuth hielt am 3. März 1848 eine aufsehenerregende Rede. Er, der schon 1837 wegen Hochverrats zu vier Jahren Festungshaft verurteilt worden war (er hatte verbotenerweise über Landtagssitzungen berichtet), forderte die Umwandlung des Kaiserstaates in eine konstitutionelle Monarchie und Verfassungen für die österreichischen Länder. 
Diese „Taufrede der Revolution“ löste einige Tage später in Wien, am 13. März, Tumulte aus, als sie bei einer öffentlichen Versammlung verlesen wurde. Gegen einen Demonstrationszug, der dem Kaiser eine Petition mit Forderungen nach einer Verfassung und Pressefreiheit überbringen wollte, wurde mit Militär vorgegangen, ein Feuerbefehl Erzherzog Albrechts forderte die ersten Toten. In der Nacht darauf plünderten Arbeitslose in den Vorstädten und legten Brände, die vor allem die Maschinen, durch die sie arbeitslos geworden waren, zerstören sollten. Militäreinsätze forderten hier mindestens 60 Tote. Die Ereignisse, vor allem die brennenden Fabriken in den Vorstädten, beeindruckten den inneren Zirkel der Mächtigen am Hof so, dass sie Metternich, der seit Jahren nur noch eine Marionette gewesen war, zur Abdankung bewegten. Er floh nach England. 
In Reaktion auf die Aufstände proklamierte der Kaiser am 15. März „Pressfreiheit“ und versprach eine Verfassung, die Provinzialstände wurden unter „verstärkter Vertretung des Bürgerstandes“ einberufen. Im deutschen Bund, zu dem ein großer Teil des Habsburgerstaates gehörte, kam es zur Einberufung einer Nationalversammlung nach Frankfurt und parallel dazu trat im Juli 1848 in Wien ein gewählter Reichstag des österreichischen Kaiserstaates zusammen, um eine Verfassung auszuarbeiten.
Nahezu gleichzeitig formierten sich in ganz Europa in zahlreichen Städten und Regierungszentren Aufständische: In Venedig empörten sie sich gegen Österreich, in Mailand wurde der österreichische Oberbefehlshaber Radetzky vertrieben. Das Königreich Sardinien nutzte die Situation und besetzte Mailand. In Ungarn hatte der Palatin, der Stellvertreter des Kaisers, allzu weitreichende Zugeständnisse gemacht. Der Oberkommandierende der Militärgrenze, der Kroate Jellacic, begann gegen die ungarischen Truppen vorzugehen, in Prag wurde der sogenannte Pfingstaufstand niedergeschlagen, in Italien manövrierte Radetzky erfolgreich. 
Die vom kaiserlichen Hof aus dirigierte Konterrevolution war ein militärisches Unternehmen, das mit Siegen in Italien und in Wien mit der blutigen Niederschlagung des Oktoberaufstandes endete und mit der Auflösung der gesetzgebenden Körperschaften, der Nationalversammlung in Frankfurt und dem mittlerweile nach Kremsier verlegten österreichischen Reichstag. In Ungarn arteten die Autonomiebestrebungen der 1848er- Revolutionäre in einen regelrechten Krieg aus, der erst nach einem Jahr von den kaiserlichen Truppen, peinlicherweise nicht ohne Waffenhilfe der Russischen Armee, beendet werden konnte, Lajos Kossuth konnte sich ins Ausland retten.
Das Faszinierende an der Lustenauer Tagung war, dass man von Ernst Bruckmüller (Wien) eine souveräne Analyse des Geschehens in seiner ganzen Komplexität erhielt, vom Zentrum der Staatsgewalt, dem Kaiser, der Regierung in Wien über die adeligen, groß- und kleinbürgerlichen Kreise, die Handwerker und Arbeiter bis zur bäuerlichen Bevölkerung in den entferntesten Provinzen des Habsburgerstaates. Auch die Situation der Frauen, ihr Engagement, ihre Forderungen und Handlungsspielräume wurden thematisiert, nämlich von Gunda Barth-Scalmani (Innsbruck). 
Die merkwürdige Situation in Vorarlberg wurde präzise von Wolfgang Scheffknecht erläutert. Als die Nachrichten aus Wien im März 1848 in Vorarlberg ankamen und vor allem die Pressfreiheit, also die Aufhebung der Zensur verkündeten, begriffen die Bauern das als Befreiung von den Steuern und Zöllen. War das ein absichtliches Missverständnis? Wohl kaum.
Die Vorgänge in Wien und in anderen Metropolen Europas verstand kaum jemand und dennoch kam auch in der kleinen westlichsten Provinz des Habsburgerreiches einiges in Bewegung. Die lokalen Behörden, allen voran Kreishauptmann Johann Nepomuk Ebner (1790-1876), dessen Tagebuch einen guten Einblick gibt, standen vor der immensen Herausforderung, angesichts der damaligen Kommunikationsverhältnisse zwischen der Regierung und der Bevölkerung zu vermitteln. Alois Niederstätter nahm die Abgeordneten ins Visier, die Vor­arlberg nach Frankfurt schicken durfte. 
Auch über die erstaunlichen Vorgänge im Allgäu und in Baden konnte man viel erfahren. Den in der Bevölkerung sehr beliebten Immenstädter Unternehmer Fidel Schlund (1805–1882) stellte Gerhard Klein (Immenstadt) vor, über den badischen Advokaten Friedrich Hecker (1811–1881) berichtete der Direktor des Städtischen Museums in Konstanz, Thomas Engelsing: Hecker hatte auf dem Höhepunkt der badischen Revolution von Konstanz aus einen Marsch von Aufständischen organisiert, der allerdings in einem Fiasko endete: Die Masse der Rebellierenden, teilweise mehrere Tausend, zerfiel, von einer Durchfallerkrankung geplagt, der übrige kleine Haufen wurde von Regierungstruppen verprügelt.
Den Schlusspunkt der Tagung setzte Wolfgang Häusler (Wien), der sein Forscherleben nicht zuletzt der Revolution von 1848 gewidmet hat. Er widmete sich den „Doktoren der Revolution“, also den Akademikern, oft Juristen, die durch ihr Wissen, ihre Rede- und Formulierkünste die Massen beeindruckten und dann, nachdem die Revolution gescheitert war, hingerichtet wurden oder für viele Jahre im Kerker landeten, oder teilweise auch ins Exil gingen. Fidel Schlund und Friedrich Hecker, die beiden Revolutionäre aus dem benachbarten Allgäu und Baden gingen, bedroht von langjährigen Haftstrafen wegen Landesverrates, in die USA, wo sie – wie viele andere „Forty-Eighters“ – am amerikanischen Bürgerkrieg teilnahmen. 
In Vorarlberg begann 1848 immerhin die politische Karriere eines politischen und unternehmerischen Kopfes, dem das Land in den Jahrzehnten danach viel zu verdanken hatte: Carl Ganahl (1807–1889) setzte sich als Wortführer der Liberalen im Landtag und als Funktionär der Handelskammer für den Bahnbau ein, auch für die Entkonfessionalisierung der Schulen. 
Eine Frage, die im Rahmen der vom Historischen Archiv Lustenau gemeinsam mit der Universität Innsbruck organisierten Konferenz immer wieder gestellt wurde, war jene nach dem geringen Interesse an den Ereignissen von 1848 und ihrer heutigen Bedeutung: Brigitte Mazohl (Innsbruck), die geschickt moderierte und in ihrem eigenen Vortrag die Bedeutung der gescheiterten Revolution für die Universitäten erläuterte, hatte hier eine schlüssige Antwort parat: Die Linken sahen in 1848 nur eine gescheiterte Revolution, die Konservativen ein frevelhaftes, kaum erinnerungswürdiges Aufbegehren und die Liberalen und späteren Deutsch-Freisinnigen hätten sich im Lauf der Geschichte bis zur Unkenntlichkeit pervertiert und wüssten mit ihren einstigen Idealen heute gar nichts mehr anzufangen.
In Lustenau fand die Tagung vermutlich statt, weil der dort heimische Wolfgang Scheffknecht ein Historiker von Format ist und der örtliche Bürgermeister Kurt Fischer einer der ganz wenigen Politiker, die wissen, dass auch bestimmte Dinge jenseits des Tagesgeschäfts von Bedeutung sind.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.