„Das ist ein goldenes Wort: »daheim«“
Über Regina Lamperts Jahre als Schwabengängerin und deren prägende Wirkung auf ihr weiteres Leben.
Vom Beginn des 17. Jahrhunderts bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts wanderten jährlich mehrere hundert Kinder aus Vorarlberg, Tirol, Liechtenstein und der Schweiz nach Oberschwaben oder ins Allgäu, um dort von Josefi (19. März) bis Martini (11. November) zu arbeiten. Eine von ihnen war Regina Lampert, die im Alter ihre Zeit als Schwabenkind aufgeschrieben hat. Die Erinnerungen wurden erstmals 1996 in der von Paul Hugger herausgegebenen Reihe „Das volkskundliche Taschenbuch“veröffentlicht. Im Frühjahr dieses Jahres erschien die Neuausgabe unter dem Titel „Die Schwabengängerin. Erinnerungen einer jungen Magd aus Vorarlberg 1864-1874“ im Limmat Verlag. Herausgeber ist der gebürtige Vorarlberger und Professor am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich, Bernhard Tschofen, der Lamperts Aufzeichnungen als das „erste und einzige umfassende Selbstzeugnis eines ehemaligen Schwabenkindes“ bezeichnet.
Regina Lampert wird 1854 in Schnifis geboren, wo sie gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern sowie Großeltern lebt. Nach zahlreichen Stationen und Arbeitsstellen zieht Lampert im Alter von 75 Jahren Resümee über ihre Jugendjahre. In einfachen Heften beginnt sie ihre Erinnerungen an die Jahre 1864-1874 aufzuschreiben. „Was mich von Beginn an fasziniert hat, ist die hohe Erzählkunst von Regina Lampert“, sagt Herausgeber und Universitätsprofessor Bernhard Tschofen. Lampert gelingt es stets spannende Erzählbögen zu setzen und den Lesenden ein Eintauchen ins Geschehen zu ermöglichen. „In ihren Erinnerungen schreibt sie auch davon, dass sie bereits als junges Mädchen gerne erzählt hat und offensichtlich auch um ihr Talent wusste“, führt der Herausgeber aus. Besonders hervorzuheben sei dabei die faszinierende Ambivalenz von Armut und Lebensfreude, durch die sich ihre Memoiren von den vergleichbaren Texten unterscheide.
Die „Erinnerungen einer jungen Magd aus Vorarlberg” sind Zeugnis einer Tradition, die lange tabuisiert wurde – die Tradition der Schwabenkinder. Während einerseits die Industrialisierung in Vorarlberg immer mehr Einzug hielt, mussten andererseits viele Bauern ihre Kinder an Höfe in Süddeutschland verdingen, um das Familieneinkommen zu sichern. Während die meisten Kinder dabei wohl kein Mitspracherecht hatten und sich ihrem Schicksal zu fügen hatten, stellt Lampert in ihren Erzählungen die Entscheidung zur Schwabengängerei als eigenmächtige dar. Denn als der Dorf-Pfarrer eines Tages im Unterricht die Frage stellt, wer denn über den Sommer ins Schwabenland gehe, hob die zehnjährige Regina die Hand und meldete sich freiwillig. Ihrer Mutter erklärte sie im Nachgang, „der Tone [ihr Bruder] bettelt so, dass ich mitkomme.“
Die Zeit in Berg bei Friedrichshafen auf dem Hof der Familie Bentele scheint Regina zumindest im ersten Jahr nach ihrer Rückkehr positiv in Erinnerung. Gerade hier zeigt sich die Ambivalenz zwischen dem Bewusstsein eines „verkauft Werdens“ und zugleich doch eines „aufgenommen Seins“ als Schwabenkind. Auch wenn die strenge Arbeit und das Heimweh häufig thematisiert werden, skizziert Lampert ein familiäres Umfeld, in welchem das zehnjährige Mädchen vom Bauern und dessen Frau, aus heutiger Sicht fast schon liebevoll, aufgenommen wird. So muss sie nicht am Tisch der Knechte und Tagwerkerinnen essen, sondern sitzt bei der Kernfamilie. „Zu dieser Zeit gab es zumindest in Ansätzen noch das alte Familiensystem des ‚ganzen Hauses‘, welches neben der eigentlichen Familie auch alle arbeitenden Mitglieder des Hofes umfasste“, erklärt Bernhard Tschofen und führt aus: „Diese standen in dieser Zeit unter dem Schutz des Patriarchen, mussten sich aber auch der Ordnung der Familie unterwerfen.” Auch Lampert erging es ähnlich, wie sie wieder zurück in Schinifis ihrer Freundin Cäcilie erzählt. Man werde „gestriegelt und gebürstet bei den Schwaben.“ Zudem war es Teil des Vertrages, dass die Kinder am Ende ihres Arbeitsaufenthalts jeweils zwei Garnituren neue Kleider und Schuhe erhielten – ein Werktagsgewand und eines für die Sonntage. „Die dafür verwendeten Stoffe waren meist teurer als die der in Vorarlberg Gebliebenen, was das Ansehen der Schwabenkinder in der Heimat steigen ließ. Man sah ihnen einfach an, dass sie aus dem Ausland kamen“, veranschaulicht der Herausgeber. Insgesamt verbringt Regina Lampert drei Saisonen in Deutschland.
Neben der erlernten Etikette bringt die Zeit in Oberschwaben eine äußerst frühe Selbstständigkeit Lamperts mit sich, die sie ihr gesamtes Leben prägen wird. „Regina Lampert war ihr gesamtes Leben lang eine starke Frau, die immer wieder etwas riskiert hat“, sagt Bernhard Tschofen und konkretisiert: „Etwa als sie in die Schweiz emigriert ist mit ihren Brüdern und dort das familiäre Bauunternehmen aufbaute und leitete. Das Heranwachsen in einem Milieu des Überlebens hat sie zu einer Überlebenskünstlerin gemacht.“ Die für Frauen im späten 19. Jahrhundert eher untypische Selbstbestimmtheit und Selbstständigkeit prägen die niedergeschriebenen Erinnerungen Lamperts. So beschließt sie etwa mit zwölf Jahren aus ihrer Anstellung im Kloster in Feldkirch zu fliehen. Mit viel Selbstvertrauen ausgestattet, macht sie sich auf zu einem dritten Sommer in Oberschwaben, wie sie ihrer Mutter in einem Brief berichtet: „Kleider hab ich nur, die ich jeden Tag zum Schaffen anhatte, Geld hab ich auch keins, aber ich bin mutig, ich komme schon durch.“ Dieser Mut resultiere auch daraus, dass mit der frühen Selbstständigkeit, die die Schwabengängerei mit sich brachte, auch ein Selbstbewusstsein einherging, „das Wissen, dass die eigene Arbeit ein Kapital ist“, ergänzt Tschofen.
„Obgleich die Erinnerungen von Regina Lampert von einer Zeit erzählen, die längst vergangen ist, sind die darin behandelten Themen nach wie vor aktuell und zeigen, wie es durch unsere gewachsene Wohlstandsgesellschaft zu einer Verlagerung der Probleme kam“, betont Bernhard Tschofen. Musste die bäuerliche Bevölkerung Vorarlbergs vor gut 150, 200 Jahren noch in andere Länder migrieren, um zu arbeiten, wendete sich das Blatt wenige Jahre später mit der Hochzeit der Stickereibetriebe: Zahlreiche Gastarbeiter kamen aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien, aber auch aus Südtirol und Kärnten. In unserer modernen, vernetzten Welt spielt Arbeitsmigration eine bedeutende Rolle.
Aber auch die thematisierte Kinderarbeit ist kein abgeschlossenes Kapitel. Während sie in unseren Breitengraden längst verboten ist und in Hinblick auf die Schwabenkinder oft als geraubte Kindheit empfunden wird, existiert diese in weiten Teilen der Welt nach wie vor und sichert tragischerweise nicht zuletzt den Wohlstand der hiesigen Gesellschaft.
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