
„ein zu erklärender Sachverhalt“
Die Ökonomin Margit Osterloh (76), emeritierte Professorin an den Universität Zürich und ständige Gastprofessorin an der Universität Basel, fordert im Interview Medien und Politik auf, „durch Vergleiche Angst zu reduzieren und damit Panik zu vermeiden.“ Die Gründerin des renommierten Forschungsinstituts CREMA sagt: „Bei Schockrisiken werden Ängste mobilisiert, die mehr Schaden anrichten können als das auslösende Schockereignis.“
Frau Osterloh, Sie haben in einem NZZ-Gastkommentar in Bezug auf die aktuelle Corona-Krise geschrieben: „Wir reagieren auf Schockrisiken ganz anders als auf gewohnte und zeitlich verteilte Risiken.“ Inwiefern?
Bei Schockrisiken reagieren wir emotional, wir denken Konsequenzen dann nicht gründlich durch, wie wir das bei zeitlich verteilten und bei gewohnten Risiken tun. Daniel Kahnemann, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, beschreibt in seinem Buch ‚Schnelles Denken, langsames Denken‘, wie wir bei langsamerem Denken zu vernünftigeren Überlegungen kommen. Im Gegensatz dazu steht eben das schnelle Denken. Und dieses schnelle Denken wird momentan von den Medien in einer unverantwortlichen Art und Weise gefördert. Sie provozieren dieses schnelle Denken geradezu …
Inwiefern?
Es fehlen die Vergleiche. Ich will das alles nicht niedrig reden, da dürfen Sie mich nicht falsch verstehen. In Italien steigen die Zahlen dramatisch, die Bilder sind ebenfalls dramatisch, keine Frage. Aber: Im Winter 2016/2017 sind in Italien 25.000 Menschen an der ‚normalen‘ Grippe gestorben. Diese Hintergrundinformationen sind erstens zur Kenntnis zu nehmen und zweitens von verantwortungsvollen Politikern und Medien auch zu veröffentlichen. Die Medien sollten die beinahe stündlich neuen Corona-Meldungen nicht ohne entsprechende Vergleiche mit den Todesfällen bei früheren Epidemien veröffentlichen. Die erste Aufgabe der Politik muss es sein, durch Vergleiche Angst zu reduzieren und damit Panik zu vermeiden!
Welche Vergleiche, welche Hintergrundinformationen?
Zu dem Zeitpunkt, als wir unser Gespräch führen, liegt das durchschnittliche Alter der Corona-Opfer in Italien bei knapp unter 80 Jahren. Und nur 0,8 Prozent derer, die gestorben sind, sind allein am Corona-Virus gestorben. 99,2 Prozent der Todesopfer waren mehrfach belastet, mit Bluthochdruck, mit Diabetes und Ähnlichem. Die sind nicht am Corona-Virus gestorben, die sind mit dem Corona-Virus gestorben. Man kann vermuten, dass viele dieser Menschen angesichts des unzulänglichen italienischen Gesundheitssystems gezögert haben, ins Krankenhaus zu gehen. Jetzt kommt eine Corona-Infektion dazu und verschlechtert ihren Gesundheitszustand dramatisch. Einen der wenigen vernünftigen Artikel habe ich im „Tagesanzeiger“ gelesen, allerdings mit dem reißerischen Titel „In der Nacht kommt die Armee und holt die Särge“.
Was stand da?
Da wird überlegt, was in Norditalien passiert und warum es gerade dort passiert. Die Antworten? Die Norditaliener haben einen sehr hohen Altersdurchschnitt. Norditalien hat landesweit die höchste Industriedichte und damit auch die größte Luftverschmutzung, was bekanntlich die Atemwege besonders belastet. Das Gesundheitswesen in Italien ist in den vergangenen Jahren kaputtgespart worden. Nach den 25.000 Grippetoten in diesem schlimmen Winter wurde zum Beispiel die Anzahl der Intensivbetten nicht erhöht. Ich will die Epidemiologen und Virologen nicht belehren, aber ich möchte, dass all das auch öffentlich diskutiert wird.
Aber die Situation in Italien wird doch offensichtlich immer dramatischer!
Nochmals: Ich will das alles nicht niedrig reden! Aber ich will den Vergleich, weil damit die allgemeine Aufregung, die viele zusätzliche Schäden hervorruft, etwas relativiert werden könnte. Bei Schockrisiken werden Ängste mobilisiert, die mehr Schaden anrichten können als das auslösende Schockereignis.
In wirtschaftlicher Hinsicht …
Nach dem Virus werden enorme wirtschaftliche Schäden auftreten. Es gibt Schätzungen, laut denen es mindestens zehn Jahre dauern wird, bis wir uns von dem wirtschaftlichen Schock erholt haben werden. Der Schaden, den wir jetzt der jungen Generation mit den wirtschaftlichen Maßnahmen aufbürden, muss ins Verhältnis mit der aktuellen Situation gesetzt werden. Laut Johns-Hopkins haben sich – wiederum zu dem Zeitpunkt, an dem wir unser Interview führen – von den 81.000 Fällen bereits 71.000 von diesem Virus wieder erholt. Das ist ein zu erklärender Sachverhalt! Ich würde gerne in den Medien auch einmal solche Zahlen lesen! Das würde den Risikoschock etwas mildern. Allerdings hat sich die Panikspirale längst zu drehen begonnen!
Vielen Dank für das Gespräch!
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