Wolfgang Weber

Er etablierte 2003 die Grundlagenlehr­veranstaltung „Politische Bildung“ für Lehramtsstudierende in Geschichte und Sozialkunde an der Universität Innsbruck. Neben der Lehre ist seine Fachexpertise als demokratiepolitischer Bildner auch in Vermittlung und Forschung gefragt, etwa bei Ausstellungsprojekten mit Klassen der Mittelschule Lauterach (2006) und des Bundesgymnasiums Lustenau (2008) und gegenwärtig als Fachexperte im EU-finanzierten Forschungs- und Vermittlungsprojekt „World Class Teacher“ mit Standorten in England, Österreich, Polen und der Slowakei.

Empowerment in der Diktatur

September 2023

Vor 80 Jahren warfen US-Flieger 36 Sprengbomben auf Feldkirch ab

Diese Zeilen werden Widerspruch auslösen. Denn sie zeigen auf, dass die ursächlich auf gesellschaftlichen Fortschritt ausgerichtete sozialwissenschaftliche Methode der Selbstermächtigung nicht ausschließlich unter den Bedingungen einer Demokratie, sondern auch in einer Diktatur wirkungsmächtig werden kann.

Um die Mittagszeit des 1. Oktober 1943 überflogen US-amerikanische B-17-Bomber Vorarlberg Richtung Augsburg. Sie hatten den Auftrag, die dortige Rüstungsindustrie aus der Luft anzugreifen. 15 dieser Flugzeuge kehrten zehn Minuten später zurück, überflogen Feldkirch auf 2000 bis 3000 Meter Höhe und warfen drei Dutzend Bomben mit einer Sprengkraft von 18.000 Kilo über Tisis und Tosters ab. Über 200 Menschen starben. 149 Gebäude waren leicht bis schwer zerstört, sieben davon total. Der Sachschaden betrug 1,8 Millionen Reichsmark.

Das Versagen des NS-Staates
Seit dem von NS-Deutschland mit dem völkerrechtswidrigen Überfall auf Polen am 1. September 1939 ausgelösten Beginn des Zweiten Weltkrieges war aufmerksamen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen klar, dass dieser Krieg auch an der sogenannten Heimatfront geführt werden wird. Denn die Waffentechnologie der damaligen Zeit ermöglichte es erstmals in der Geschichte, über Luftstreitkräfte das Hinterland eines Feindes ohne Bodentruppen mit Tod und Zerstörung zu bedrohen. 
Ein Jahr nach Kriegsbeginn fiel die erste Bombe auf Vorarlberg. Die Royal Air Force überflog auf ihrem Weg zu einem Nachtangriff auf München am 2. September 1940 die neutrale Schweiz und das seit 1938 zu NS-Deutschland gehörende Vorarlberg. Ein britisches Flugzeug kreiste auf dem Rückflug zwischen Bodensee und Hohenems und warf mehrere Brand- und Sprengbomben ab. Eine schlug im Lustenauer Rheinvorland ein, die anderen auf Schweizer Staatsgebiet.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde der Bedarf nach Luftabwehr und Luftschutz offenkundig. Im von Tirol aus in einem gemeinsamen sogenannten Gau verwalteten Vorarlberg sahen die Behörden die Angelegenheit aber nicht als dringlich an. NS-Deutschland hatte bis 1941 große Teile Europas überfallen und besetzt. Die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition konnten nur von Großbritannien aus mit Flugzeugen operieren. Deren Reichweite war beschränkt und Vorarlberg hatte zu diesem Zeitpunkt wenig und dezentral organisierte Rüstungsindustrie. Militärisch geschützt waren lediglich das Umspannwerk in Bürs und das Kraftwerk in Vermunt. Im ganzen Land gab es keine Flak.
Empowerment der Bombenopfer
So konnten die US-Bomber am 1. Oktober 1943 ungehindert einfliegen und ihren Angriff auf Feldkirch ausführen. Die Bewohner des vom Bombenangriff am meisten betroffenen Quartiers um die Tisner Dorfstraße nahmen nur kurze Zeit nach Abschluss der Aufräumarbeiten ihren Luftschutz in eigene Hände. Nach dem Trauma des Luftangriffs trauten sie dem NS-Staat nicht mehr. Mitte November gründeten 37 Anrainer eine sogenannte Selbsthilfegemeinschaft für den Bau des LS-Stollens Carina und begannen auf einem Privatgrundstück mit dem Bau des sogenannten Carinastollens. Im April 1944 war er fertiggestellt und hatte Raum für bis zu 100 Personen. Bis Kriegsende 1945 wurde er auch mehrmals genutzt.
Unter den 37 Gründern waren elf NSDAP-Mitglieder. Sie ermächtigten sich also selbst gegen das Versagen ihres NS-Staates im Luftschutz. Das taten sie in einer Form, die rechtlich im NS-Staat nicht vorgesehen war. Trotzdem wurden sie nicht sanktioniert, sondern durch ihre Eigeninitiative gelang es der Zentralverwaltung in Innsbruck, die NS-Reichsregierung in Berlin zu überzeugen, in Feldkirch drei weitere Stollen auf Kosten des Staates zu errichten.

Selbstermächtigung ohne Systemkritik
Ganz anders als das Konzept des Empowerment, das seit den 1950er Jahren in den USA etwa in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung dahingehend praktiziert wurde, den Menschen ihre Rechte als Bürger bewusst zu machen und sie zu befähigen, diese auch anzuwenden, war das Tisner Empowerment der Bombenopfer ein Akt der Nachbarschaftshilfe. Es hinterfragte nicht die staatlichen Strukturen oder ihre Politik und es klärte die Menschen nicht über ihre Rechte auf. Solche hatten sie in einer Diktatur nicht. Trotzdem war es ein Akt der Selbstermächtigung gegen einen übermächtigen und versagenden Staat.
Dass ein solches Empowerment von Bürgern nicht umgehend durch den NS-Staat unterbunden wurde, erklärt sich unter anderem durch einzelne Proponenten der Selbsthilfegemeinschaft Carinastollen. Diese waren im Sinne der NS-Diktatur systemtreu.

Bürgerschaftliches Engagement und Nationalsozialismus
So war etwa der Ortsgruppen- und Propagandaleiter der NSDAP Feldkirch aus den Jahren der sogenannten Kampfzeit der NSDAP, Rechtsanwalt Jakob Gorbach, ein Akteur der Selbsthilfegemeinschaft Carinastollen. Im Mai 1933 hatte Gorbach gemeinsam mit dem Feldkircher Turnverein eine große Schlageter-Gedenkfeier organisiert. Albert Leo Schlageter war ein früher Nationalsozialist, der 1923 als Terrorist von der französischen Besatzungsmacht im Ruhrgebiet zum Tod verurteilt und hingerichtet worden war. Neben Gorbach waren mit zwei Gastwirten, mehreren Lehrern, weiteren Staatsbediensteten unter anderem des Finanzamts, der Polizei oder der Post, ein leitender Angestellter der Baufirma Seraphin Pümpel und ein Bankdirektor in der Selbsthilfegemeinschaft organisiert. Auch ein christlichsozialer Mann, der nach 1945 orts- und landespolitische Karriere für die ÖVP machte, fand sich in diesem Kreis.

Die Grenzen der Selbsthilfe
Nach der Befreiung im Mai 1945 versuchte die Selbsthilfegemeinschaft den Carinastollen mit Verweis auf andere Luftschutzbauten in Feldkirch in öffentliches Eigentum überzuführen. Sie beantragte zudem eine Kostenübernahme der durch sie vorgestreckten Rechnungen für den Bau. Letztere erhielten sie zu 70 Prozent aus der Feldkircher Stadtkassa ersetzt. Mit ihrem Antrag auf Übernahme in öffentliches Eigentum scheiterten sie. 
Das Amt der Stadt Feldkirch war in Übereinstimmung mit der Behörde des sogenannten Liquidators der Einrichtungen des Deutschen Reiches in der Republik Österreich der Meinung, dass der Carinastollen keine Verantwortung des Staates sei, weil er selbstorganisiert auf Privatgrund errichtet worden war. Im November 2022 berichtete der ORF Vor­arlberg, dass sich an dieser Rechtsposition der Stadt Feldkirch zum Carinastollen in 80 Jahren nichts geändert habe.

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