Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

Krise und Tabu

November 2022

Es liegt etwas Unheimliches in der Luft, man ahnt es mehr, als dass man die Auswirkungen wirklich schon spürt: Das Gespenst der Krise geistert vor allem durch die Köpfe, okkupiert die öffentlichen Diskurse, prägt das Gerede da und dort, manifestiert sich in Talkshows und Kommentaren, in Analysen und Aktienkursen, in Preisentwicklungen und diversen Szenarien und Prognosen.
Aber um was für eine Krise geht es überhaupt? Tatsächlich überlagern sich mehrere krisenhafte Entwicklungen, teils zusammenhängend, teils unabhängig voneinander. Die 2020 auftretende Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen hat wie noch nie zuvor die Problematik der wirtschaftlichen Abhängigkeit von Rohstoffen, von Produkten aller Art, der Auslagerung zahlreicher industrieller Fertigungsprozesse vor Augen geführt. Im Alltag hat gleichwohl kaum jemand unter einem Mangel gelitten, selbst Klopapier war immer verfügbar. In der Corona-Krise hat sich aber vor allem gezeigt, welche gesellschaftliche Krisen biologische Prozesse auszulösen vermögen, wenn Angst und Unsicherheit durch politische Maßnahmen verstärkt statt gemildert werden. Zur Krise wurde das Geschehen durch das Hin und Her der Maßnahmen und durch eine künstlich hergestellte Rechtsunsicherheit, etwa durch Ausgeh- und Kontaktverbote, die dann hinterher keine mehr waren.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 hat die einseitige Ausrichtung der Energieversorgung durch teilweise extrem steigende Preise spürbar gemacht und überdies eine Fülle von kaum noch zu verarbeitenden Horrornachrichten und Schreckensbildern in die Wohnzimmer gespült. Ein Krieg mit all seinen Folgen erschüttert Europa und die Welt, Preissteigerungen vor allem im Energiesektor werden zwar zu einer Zunahme der Konkurse führen, sind aber vermutlich noch eines der kleineren Probleme unter all den Auswirkungen, die noch zu befürchten sind.
Pandemie und Krieg haben eine weitere und vermutlich wesentlich schwerer wiegende Krise überlagert: Die Klima­krise. Jahrzehntelang hat man diskutiert und gestritten, ob der beobachtete Klimawandel von Menschenhand gemacht ist und welche Maßnahmen ergriffen werden sollten. Das dramatische Dahinschwinden der alpinen Gletscher und immer häufiger auftretende außergewöhnliche Wetterereignisse haben wohl inzwischen die Meisten davon überzeugt, dass Handlungsbedarf besteht, bevor es zu spät ist. Wohl scheint die Entwicklung schon unumkehrbar zu sein, aber vielleicht könnte man die Folgen durch die richtigen Maßnahmen noch mildern. Aber noch können die Gefahren und möglichen Folgen gar nicht alle abgeschätzt werden und noch fühlen sich allzu Viele weder betroffen noch verantwortlich und handeln dementsprechend;buchen Kreuzfahrten, produzieren Verkehrsstaus, blasen mit den Laubbläsern den Dreck zum Nachbarn und lassen Bitcoins schürfen. Das Vertrackte an der Klimakrise ist, dass es um die kommenden Generationen geht, um die Enkel unserer Enkelkinder. Aber deren künftige Probleme sind unsere Sorge nicht. Aber könnte es sein, dass die durch den Ukrainekrieg bedingte Verteuerung von Gas und Öl den vielbeschworenen Ausstieg aus der fossilen Energie beschleunigt?
Das Unheimliche an den Krisen ist vor allem, dass zwar, wie Reinhart Koselleck betont, „eine Entscheidung fällig ist, aber noch nicht gefallen“, mithin eine allgemeine Unsicherheit alles Denken, Handeln und Fühlen kontaminiert. Das ist unheimlich vor allem deshalb, weil wir darauf kommen könnten, dass die Entscheidung allein bei uns liegt. 
Es ist nicht das Schicksal, nicht der liebe Gott, es sind auch nicht die vermeintlich Mächtigen dieser Welt, die entscheiden. Das Hinausschieben, das auf andere Abwälzen, das Wegsehen, die bequeme Neutralität, das gemütliche Nichteinmischen sind der Brennstoff für die Prolongierung aller Krisen. Deren Wesen ist nicht nur die fällige, aber noch nicht gefallene oder getroffene Entscheidung, sondern sie wird wirklich „der Mangel an Vertrauen“, wie Karl Jaspers anfangs der krisengeschüttelten Dreißigerjahre bemerkte. Und damit ist nicht zuletzt der Mangel an Vertrauen zu uns selbst gemeint. 
Vielleicht ist es an der Zeit, die Werkzeuge, die Prothesen, all die Geräte, die wir verwenden und vermeintlich so dringend brauchen, zu prüfen. Das schönste Sinnbild auf den Mangel an Vertrauen zu uns selbst und zu allen anderen ist der Popanz der künstlichen Intelligenz (KI). Es vergeht keine Woche, in der uns nicht eine Nachricht zu irgendeinen neuen Leistung eines entsprechend genial programmierten Geräts ereilt. Inzwischen gibt es selbstständig lernende Systeme und andere wundersame Dinge. Doch man muss sich auf eine große Enttäuschung gefasst machen: Die Rettung der Welt, ja nicht einmal die Beendigung der nebensächlichsten Krise, kann man sich vom Einsatz der KI nicht erhoffen. 
Es sind einzig und allein Formen des kommunikativen Umgangs, der Begegnungen, des – wie auch immer schwierigen und mühsamen – Miteinanders, die Krisen bewältigen helfen. Dazu gehören das Zuhören, das Verstehen, die klare Sprache und viel Empathie, um beim anderen das zu erreichen, was eine Mindestanforderung für Verständigung ist: Vertrauen. All die technischen Prothesen, das Internet, die sozialen Medien und auch KI können als Medien das Zueinander-Kommen, nötige Vereinbarungen erleichtern und beschleunigen, aber sie sind nicht das Wesentliche, die Message. Die einzige Währung, die zählt, ist das Vertrauen in den anderen und das Wissen, dass der andere einem selbst vertrauen wird.
Die Ohnmacht angesichts der sich überlagernden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen lähmt und das Gefühl, dass das System, die Strukturen, die Politik, die Gesellschaft, die Wirtschaft unbeeinflussbar sind, führt zur gar nicht fröhlichen Agonie, einer Passivität und merkwürdigen Gemütlichkeit, die für unser gegenwärtiges Biedermeier so kennzeichnend sind. Und ohnmächtig fühlen sich nicht nur die Armen und Deklassierten, sondern auch die Reichen und Mächtigen, die Repräsentanten des Systems und sogar ganze Staaten.
Am Ende des ersten Biedermeiers stand die Revolution von 1848. Die Forderungen der Aufständischen berührten nahezu alle Tabus von Staat und Gesellschaft. 
Das große Tabu der heutigen Zeit ist der Konsum. Die Schlagworte von Überflussgesellschaft und Wegwerfgesellschaft gehen Hand in Hand mit medial routiniert präsentierten Hungersnöten und Kriegen anderswo. Doch die Migrations- und Flüchtlingsströme, von vielen als Bedrohung empfunden, erinnern daran, dass jene, die kommen, an unserem Überfluss partizipieren wollen und offenbar ein Recht auf einen Teil unseres Reichtums geltend machen. Die Abwehrmaßnahmen bringen täglich weitere Bilder von Flüchtlingsbooten, Ertrunkenen, von Zäunen, die unseren Reichtum sichern sollen, hervor. Die Migrationsbewegungen, die Energie- und Rohstoffkrisen sind Symptome unserer im Grunde geistigen Krise: Die Überlebenschancen unserer Kultur und Gesellschaft entscheiden sich an der Art und Weise, wie wir den materiellen Verbrauch künftig verabreden und praktizieren und wie gerecht Räume, Lebensmöglichkeiten, Überschüsse, Gewinne, Reichtümer und Lasten verteilt werden. Wie hat der griechischer Philosoph Kondylis vor vielen Jahren gesagt: „Pluralismus ist nur da möglich, wo es Raum für Viele und Vieles gibt.“ 
Gegenwärtig rührt noch niemand an unserem größten Tabu, lediglich das Gerede von der Krise stört uns in unserer Gemütlichkeit etwas auf. Noch hat kaum jemand etwas gespürt und sich irgendwie einschränken müssen. Luxusreisen und übermotorisierte Geländewagen sind an der Tagesordnung, der Schiurlaub in Lech oder St. Moritz ist schon gebucht. Und sollten die Kurse fallen, so lernt man, auf Baisse zu spekulieren. Wo eine Krise stattfindet, dort gibt es Krisengewinnler. Doch selbst einer der Reichsten, Johann Rupert, warnte 2015 auf dem „11th Business of Luxury Summit“ in Monaco: „Wenn 0,1 Prozent der 0,1 Prozent Reichsten alles aufkaufen, ist das ungerecht und auf die Dauer unerträglich, selbst wenn sie unsere Kunden sind. Sie werden zu Zielscheiben werden, man wird sie hassen, verachten … Sie werden ihr Geld nicht mehr offen zeigen wollen.“ 
Der unermessliche Reichtum der Reichsten der Reichen ist auch bei Weitem nicht das größte Problem, nur ein Symptom der Schwäche unserer Nationalstaaten, eine vernünftige Besteuerung durchzusetzen. Das wirkliche Problem besteht vielmehr im Massenkonsum, seinen Folgen für die Umwelt und der schieren Unmöglichkeit, ihm Einhalt zu gebieten und vernünftig regulierend einzugreifen. 
Ein Tabu kann nicht einfach durch Regierungsmaßnahmen aufgehoben oder beendet werden. Von ihm befreit nur individuelle Kopfarbeit und der intensive Austausch mit anderen. Dazu kann die eine oder andere Energie-, Rohstoff-, oder Finanzkrise vielleicht manche bewegen. Aber wer will schon verzichten, sich einschränken, im Umgang mit den Konsum- und Luxusgütern, die ja nichts anderes sind, als mit Energie auf Basis von Ausbeutung verarbeitete Rohstoffe, vernünftig werden? Und wie könnte das auch aussehen? Die wahre Krise spielt sich in und zwischen unseren Köpfen ab, es handelt sich um eine geistige Krise, von der all die wunderbaren kleinen technischen Geräte und Social-Media-Spielzeuge, die wir zwischen uns vermitteln lassen, nur ablenken.

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