Matthias Sutter

*1968 in Hard, arbeitet auf dem Gebiet der experimentellen Wirtschaftsforschung und Verhaltensökonomik, ist Direktor am Max Planck Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn und lehrt an den Universitäten Köln und Innsbruck. Der Harder war davor auch an der Universität Göteborg und am European University Institute (EUI) in Florenz tätig.

Reden oder schweigen? Das ist bald nicht mehr die Frage in Zeiten politischer Korrektheit

August 2023

Normalerweise schreibe ich in dieser Kolumne über aktuelle verhaltensökonomische Erkenntnisse. Einige Erlebnisse im Sommer haben mich dazu bewogen, heute einmal ein grundsätzlicheres Thema anzusprechen, nämlich die Frage, ob politische Korrektheit unserer Demokratie wirklich guttut.

Für den Menschen als soziales Wesen spielt die Sprache eine entscheidende Rolle. Wir brauchen sie etwa zur Koordination unserer Handlungen, zum Lösen von Konflikten oder zum Aufbau von Beziehungen. Jedoch ist in unserem Alltag immer weniger aussprechbar, weil es scheinbar nicht mehr politisch korrekt ist, manche Themen überhaupt zu diskutieren.
Bei einem sommerlichen Treffen von Auslandsvorarlbergern kamen wir beim Abendessen auf das Thema Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen zu sprechen. Dass das ein kontroversielles Thema ist, war mir bewusst. Ich war dann aber doch überrascht, als mir jemand zu verstehen gab, dass ein solches Gender-Thema ein „Party-Crasher“ wäre und eigentlich beim Abendessen nichts zu suchen hätte.
Zum Glück gab es aber leichtere Themen. Beispielsweise ist es bei einem Treffen von Auslandsvorarlbergern unproblematisch, die Frage zu stellen, woher denn jemand komme. Es ist nämlich Teilnahmevoraussetzung, dass so jemand aus Vorarlberg kommt. Es geht dann also nur mehr darum, ob jemand aus dem Montafon, Rheintal, Bregenzerwald oder gar aus dem Kleinwalsertal (oder anderen Gegenden in unserem schönen Ländle) stammt. Das ist als Konversationsthema in diesem Kreis unproblematisch. Wehe aber, wenn nicht von vornherein klar ist, dass eh alle aus demselben Bundesland kommen. Dann gelten solche Fragen nach der Herkunft heute ja schon vielen Menschen als rassistisch, weil sie scheinbar automatisch eine Trennung in „wir“ gegen „die anderen“ schaffen würde. Als mich im Italienurlaub ein Verkäufer freundlich fragte, woher ich käme, hatte ich das als netten Akt des ehrlichen Interesses wahrgenommen – und wir haben nach meiner Antwort über seine Erfahrungen auf dem Christkindlmarkt in Innsbruck geplaudert –, jedoch nicht als trennendes „du gehörst hier nicht her“. Dass letzteres in Sprache auch mitschwingen kann, ist leider richtig. Aber wenn die Frage an sich nicht mehr erlaubt ist, gehen viele andere Möglichkeiten für verbindende Kommunikation zwischen Menschen verloren.
Wenn man also nicht mehr nach jemandes Herkunft fragen darf, dann war ich bis vor Kurzem so naiv zu glauben, dass man die Menschen fragen dürfe, was sie denn beruflich machen würden. Im Sommer durfte ich aus einer deutschen Tageszeitung lernen, dass das jetzt auch politisch inkorrekt ist.
Diese Frage – meist von älteren Menschen – würde den jüngeren Menschen suggerieren, dass sie sich über ihren Beruf zu definieren hätten. Das aber wäre eine Einschränkung in der Entfaltung der Persönlichkeit. Schließlich gäbe es ja viel mehr im Leben als den Beruf, nämlich vor allem das „Life“ im Begriffspaar „Work-Life-Balance“. Arbeit wäre ja nur mehr ein notwendiges Übel, um die eigene Freizeit genießen zu können. Am Begriff Work-Life-Balance hat mich immer schon gestört, dass die Wortkombination suggeriert, dass das eine das Gegenteil vom anderen wäre. Dabei bin ich überzeugt, dass im Leben der allermeisten Menschen etwas Wichtiges fehlen würde, wenn man die Arbeit gänzlich wegließe. Dass es volkswirtschaftlich ohne Arbeit – oder sagen wir mit sehr wenig Arbeit (wie in den aktuellen Vorschlägen zur 32-Stunden-Woche propagiert) – eine öde, nämlich arme Freizeit ohne Wohlstand wäre, sei nur am Rande erwähnt.
Worüber reden wir also in Zukunft miteinander, um uns als soziale Wesen auszutauschen? Über das Wetter? Geht nicht, weil das auch schon politisch ist („schönes“ Wetter ist ja für manche Menschen synonym für „Klimaerwärmung“ und muss darum bekämpft werden). Wenn mehr und mehr Themen aber verboten werden, dann leidet darunter der demokratische Meinungsaustausch und die Möglichkeit zur Meinungsbildung und insbesondere zur Kompromissfindung. Dass Diskussionen mit wechselseitigem Respekt geführt werden sollten (unabhängig davon, welches Geschlecht jemand hat, welchen Beruf er hat oder woher er kommt), ist eine Selbstverständlichkeit. Wenn aber manche Themen nicht mehr diskutiert werden können, dann führt dieses erzwungene Schweigen zu einer Polarisierung von Meinungen und zu einem immer härteren Kampf, welche der (nicht mehr diskutierbaren) Meinungen die politische Oberhand behält. Das ist für das Finden von Kompromissen, wovon eine Demokratie lebt, auf lange Sicht eine Katastrophe.
Dass dieses Nicht-mehr-miteinander-reden-Können über wichtige Themen unseres Lebens längst eine Realität und kein Zukunftsszenario ist, erhellt eine wunderbare Studie von Keith Chen von der University of California Los Angeles. Er konnte zeigen, dass die Dauer der Thanksgiving-Feste – dem traditionell wichtigsten Familienfest in den USA – um etwa 15 Prozent abgenommen haben, wenn Familienmitglieder zusammenkommen, die im Jahr 2016 für unterschiedliche Präsidentschaftskandidaten (Donald Trump versus Hillary Clinton) gestimmt haben. Man lässt eben politische Themen, wenn sie so stark polarisieren, aus der Konversation weg.
Aber man ersetzt dieses Thema – und andere politisch inopportune Themen – dann eben nicht durch andere, sondern bricht die Gespräche früher ab und geht schneller wieder getrennter Wege.
Eigentlich aber brauchen wir mehr Kommunikation, um wichtige Probleme zu lösen, nicht weniger. Dazu wird es aber nötig sein, mehr Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen zu haben und sich auch einmal einen völlig gegensätzlichen Standpunkt anzuhören, selbst wenn er einen am Schluss nicht überzeugt. Eine Demokratie lebt vom Meinungsaustausch. Eine drastische Verengung des erlaubten Meinungskorridors, wie sie durch politische Korrektheit (nicht umsonst auch als Meinungsdiktatur bezeichnet) herbeigeführt wird, wird einer Demokratie auf Dauer nicht guttun.

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