David Stadelmann

* 1982, aufgewachsen in Sibratsgfäll, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, Fellow bei CREMA – Center for Research in Economics, Managemant and the Arts; Fellow beim Centre for Behavioural Economics, Society and Technology (BEST); Fellow beim IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues; Fellow am Ostrom Workshop (Indiana University); Mitglied des Walter-Eucken-Instituts.

 

Risiken differenzierter und breiter betrachten

September 2020

Während sich das Wissen über die gesundheitlichen Risiken verbessert, werden die gesamt­gesellschaftlichen Konsequenzen der Krise immer ungewisser.

Der Gesundheitszustand der europäischen Wirtschaft ist kritisch. Die Wirtschaftsleistung der Eurozone ist im 2. Quartal um 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal geschrumpft, und die Arbeitslosigkeit liegt derzeit bei rund 8 Prozent – Tendenz steigend. Dabei ist die Kurzarbeit nicht mitberücksichtigt, sodass die tatsächliche Unterbeschäftigung noch weit höher liegt. Überall steigen die Staatsausgaben, die Steuereinnahmen fallen und zugleich fällt die Wirtschaftsleistung, womit diese drei zentralen volkswirtschaftlichen Größen in die falsche Richtung gehen und die Stabilität der öffentlichen Finanzen gefährdet ist. Auf die Lockdowns und Grenzschließungen im März und April folgte in der Europäischen Union ein massives Umverteilungs- und Verschuldungsprogramm. Dabei wurden viele fiskalische Stabilitätsprinzipien über Bord geworfen, was neue Krisen wahrscheinlicher macht.
Die erste Corona-Welle hat die Wirtschaft voll infiziert und die längerfristigen gesellschaftlichen Folgen sind höchst ungewiss. Kommt keine substanzielle Erholung und eine stabile, längerfristige Wachstumsperspektive, könnten wir bald mit Staatsschuldenkrisen und darauffolgenden Staatskrisen zu kämpfen haben, denn auch Wirtschaftskrisen haben Ansteckungspotential. Dass nun Corona wieder zurück ist und die Fallzahlen in fast allen europäischen Ländern steigen, macht die Zukunft stärker abhängig von politischen Entscheidungen. 

Unterschiedliche Betroffenheit

Derzeit beitreiben viele europäischen Regierungen, ähnlich wie im Frühjahr, eine eher undifferenzierte Einheitspolitik. Dabei werden die Risiken für alle Bereiche der Gesellschaft nicht breit genug betrachtet und die gesundheitlichen Konsequenzen einer Infektion mit Corona nicht ausreichend zwischen Risikogruppen differenziert. Während zu Beginn der Pandemie noch Ungewissheit über die Risiken bei Infektion für alle Bevölkerungsgruppen bestand, hat sich dieses Wissen mittlerweile enorm verbessert. Die gesundheitlichen Folgen treffen die Bürger ungleich. Das Risiko bei einer Infektion mit Corona zu sterben, ist vor allem für sehr alte Mitbürger hoch, sowie für jene mit oft identifizierbaren Vorerkrankungen und starkem Übergewicht. Für sie stellt eine Virusinfektion ein sehr hohes Risiko dar. Für Bürger im frühen und mittleren Erwachsenenalter ist hingegen ohne große Studien schnell erkennbar, dass ihr Risiko bei Infektion zwar nicht null, aber doch im Vergleich zu anderen Lebensrisiken niedrig ist: So kennen viele jemanden dieser Altersgruppe, der von der Krankheit genesen ist. 
Eine Studie in der angesehenen Fachzeitschrift „The Lancet Infectious Diseases“ zum Schweizer Kanton Genf, in dem sich über zehn Prozent der Bevölkerung bis Anfang Juni angesteckt haben, belegt die stark unterschiedliche Betroffenheit nach Altersgruppen. Nach ihr liegt das Sterberisiko bei Infektion bei hohen 5,6 Prozent für über 65-Jährige, 0,14 Prozent für 50 bis 64-Jährige, 0,0092 Prozent für 20 bis 49-Jährige, 0,00032 Prozent für 10 bis 19-Jährige. Dabei sind die kleinen Wahrscheinlichkeiten intuitiv schwer einschätzbar und müssen mit Vergleichen fassbar gemacht werden: Wer sich mit 40 Jahren zu Selbstfindungszwecken für ein Jahr nach Indien begibt, setzt sich – neben vielen anderen Gesundheitsrisiken – einem Sterberisiko im Straßenverkehr aus, das mehr als doppelt so hoch ist, wie jenes einer Infektion mit Corona. Für unter 20-Jährige ist selbst der sichere Straßenverkehr in Österreich in einem Jahr gefährlicher als eine Infektion mit Corona. Mit hohem Alter steigt das Sterberisiko bei Infektion aber schnell an und wird insbesondere für Bürger in Pflegeheimen sehr relevant. 
Insofern ist es verständlich, dass Sterberisiken von Corona und schwerwiegende Erkrankungen manche Bürger im frühen und mittleren Erwachsenenalter nicht zu beeindrucken vermögen. Dies mag auch erklären, warum manche den staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen ausweichen: Feiern verlegen sich ins Private, Infizierte teilen nicht alle Kontaktpersonen mit, Gebote werden nur dort beachtet, wo sie kontrolliert werden. Die Politik versucht insbesondere jene, die sich nicht an die Regeln halten, durch Hinweise auf seltene, aber schwere Fälle bei jüngeren Personen „zur Vernunft“ zu bringen. Die Gefahr dabei ist, dass dies von manchen Bürgern als „Suchen nach Einzelfällen“ abgetan wird. Vernünftiges Verhalten wird mittel- und längerfristig besser erreicht, wenn man vernünftig über Risiken informiert.

Wissen über unterschiedliche Risiken nutzen

Bestehende Erkenntnisse zum Risiko bei Infektion können sinnvoll genutzt werden, um die gesamtgesellschaftlichen Kosten der Krise für alle zu senken: Personengruppen mit hohem und geringem Risiko bei Infektion sind über ihr Alter weitgehend identifizierbar, was eine Differenzierung von Schutzmaßnahmen erlaubt. Besonders starke Vorsichtsmaßnahmen in Pflegeheimen hin bis zu Kontaktbeschränkungen könnten ausgeweitet werden. Der freiwillige Einsatz von bereits Genesenen und weitgehend Immunen in Pflegeheimen entspräche dem üblichen Vorgehen bei anderen Infektionskrankheiten wie der Grippe, wo Pflegefachkräfte oft durch Impfung immunisiert sind und daher ein geringes Infektionsrisiko besteht. Gleichzeitig könnte auf die Möglichkeit des Eigenschutzes expliziter hingewiesen werden, denn partikelfiltrierende Halbmasken (FFP-Masken) bieten bei richtiger Handhabung einen Eigenschutz vor Infektion. 
Einheitspolitik und undifferenzierte Informationen lassen die gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Risiken derzeit weiter ansteigen. Diese Risiken sind ebenfalls ungleich verteilt, aber gerade umgekehrt wie die gesundheitlichen Risiken, da sie vor allem die Zukunft der derzeit arbeitenden Bevölkerung betreffen. Die Situation könnte sogar noch problematischer werden. Besonders alte Menschen haben oft das Gefühl, wenig geschützt zu sein. Gleichzeitig haben manch andere den Eindruck, sie würden nur die Last der Maßnahmen tragen, um wenige besonders Alte zu schützen, die mit gezielten Maßnahmen besser geschützt werden könnten. Was die Bürger eint, ist ein zunehmender Vertrauensverlust. 
An einer transparenten Risikoinformation und einer sachlichen gerechtfertigten, differenzierten Politik führt kein Weg vorbei. Eine derartige Politik würde die Lasten der Krise besser tragbar machen und sie fairer verteilen. Es gilt nämlich zu berücksichtigen, dass große Teile der Bevölkerung sich noch lange an den steigenden Kosten der wirtschaftlichen und der drohenden gesellschaftlichen Krise abarbeiten werden.

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