
Von Spießern und bunten Zuchthäusern
Manfred Lütz (60), deutscher Psychiater, Theologe und Autor mehrerer populärer Bücher, spricht im „Thema Vorarlberg“-Interview über die Tyrannei der Normalität, den grassierenden Gesundheitswahn – und davon, was man im Leben wirklich erlebt haben sollte.
Sie sind Psychiater, und eines Ihrer Bücher trägt den Titel „Irre – wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen“. Das ist dann doch eine etwas ungewöhnliche Ansicht …
Manfred Lütz: Das Buch ist eine Einführung in die Psychiatrie, alle Diagnosen und Therapien, ein bisschen unterhaltsam. Darin habe ich ein bisschen für meine rührenden Patienten geworben. Patienten sind ja viel netter als wir Normopathen. Normale, also Sie und ich beispielsweise, sind ja ziemlich langweilig. Aber psychisch Kranke tragen ihre Außergewöhnlichkeit nach außen und machen so deutlich, dass jeder Mensch außergewöhnlich ist. Wenn es nicht die Tyrannei der Normalität gäbe.
Wie meinen?
Sobald irgendjemand eine Macke hat oder auch nur ein bisschen auffällig ist oder dergleichen, stecken wir ihn sofort in eine Schublade. Das ist die Tyrannei der Normalität. Und das finde ich schlecht. Weil man quasi alle Menschen zwingen will, sich normal zu verhalten. Und das betrifft auch Meinungen! Es gibt ja heute zu bestimmten Fragen festgestampfte Meinungen, die man haben muss, und Formulierungen, die man zu wählen hat. Und wenn man die nicht genau trifft, dann wird man schon öffentlich an den Pranger gestellt. Und das macht die öffentlichen Debatten manchmal ja auch so langweilig.
Menschen sind in ihren Milieus verhaftet. Sie aber nennen diese Milieus bunt bemalte Zuchthäuser. Warum denn dieses?
Jeder Mensch lebt in einem Milieu. Soziologen sprechen von zehn unterschiedlichen Sinus-Milieus. Und Sie werden neun dieser zehn Milieus spießig finden. Das Milieu, das übrig bleibt, ist Ihres. Damit will ich sagen: Im Grunde genommen sind Menschen, die andere Menschen für spießig halten, selber spießig. Wir leben in unserem jeweiligen Milieu mit Leuten, die ähnlich gekleidet sind, die ähnliche Sachen gut finden wie wir, die ähnliche Meinungen haben. Das ist an sich noch gar nicht mal so schlecht.
Aber?
Wenn man nur in diesem Milieu lebt, wenn man außerhalb dieses Milieus gar keine Freunde mehr hat, dann werden das Leben und damit auch die Sicht auf die Welt immer enger. Deswegen rate ich, dass man wenigstens einen Menschen zum Freund haben sollte, dessen Outfit man eigentlich spießig findet, der also jedenfalls nicht zum eigenen Milieu zählt. Ansonsten werden die eigenen Milieus zu solchen bunt bemalten Zuchthäusern, in denen man nur noch mit solchen Langweilern zu tun hat, wie man selbst einer ist. Und dann besteht die Gefahr, dass man die Farbigkeit der Welt nicht mehr wahrnimmt.
Sie schreiben in „Bluff! Die Fälschung der Welt“, dass jedes Milieu seine bevorzugten Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsendungen habe, die dazu beitrügen, die eigene Wahrheit je länger, je mehr als die einzig wahre zu empfinden.
Genau. Was ich jetzt sage, meine ich nicht abwertend: Es gibt Menschen, die in einem rustikalen Milieu leben. Die haben Bauernmöbel, einen röhrenden Hirsch über dem Sofa und den Musikantenstadel im Fernsehen. Andere Menschen leben wiederum in einem hypermodernen Milieu. Ein Freund von mir ist Psychiater. Der hat keine Wohnungseinrichtung, der hat eine Installation. Da kommen Sie ins Wohnzimmer und wissen gar nicht, wo Sie sich hinsetzen sollen, weil die Stühle genauso aussehen wie die Tische. Das Klo ist viereckig und schlecht beleuchtet. Aber der fühlt sich da sauwohl. Und der hat auch Freunde, die in solchen Milieus leben. Und der empfindet ein solches Bauernmilieu sicherlich als total spießig. Wie auch die Menschen in dem zuvor beschriebenen rustikalen Milieu mit dem hypermodernen Milieu nichts anfangen können. Und dann gibt es wieder Menschen, die in einem ökologischen Milieu leben, mit voll kompostierbarer Wohnungseinrichtung. Da riecht es zwar ein bisschen streng, aber auch die fühlen sich sauwohl. Wie gesagt: Schlecht ist das nicht, solange man aufpasst, dass man nicht nur mit diesem einzigen Milieu zu tun hat. Weil das Leben dann einfach nur noch langweilig ist.
Eines ihrer Plädoyers lautet: Die Menschen sollten die Scheinwelten in ihrer Künstlichkeit erkennen. Was bitte soll das sein?
Wir leben heute zunehmend in künstlichen Welten – in der Wissenschaftswelt, in der Psychowelt, in der ich mich selbst aufhalte, in der Medienwelt, der Finanzwelt. Das sind alles nützliche Welten. Aber wenn man diese Welten für die eigentliche Realität hält, dann verpasst man sein eigenes Leben. Denn die existenziellen Erfahrungen im Leben eines Menschen, also die wirklich wichtigen Erfahrungen, wie die Erfahrung von Liebe, die Erfahrung von Gut und Böse, die Erfahrung vom Sinn des Lebens oder von Gott, kommen in all diesen Welten nicht vor. Das kann dort auch gar nicht vorkommen. In der Wissenschaft können sie keine Liebe messen und in der Psychologie keine Schuld und in der Finanzwelt lässt sich auch nur schwer feststellen, wie viel der liebe Gott wert ist. Diese Welten sind nützlich, dagegen ist gar nichts zu sagen. Aber man muss sich eben klarmachen, dass die wichtigen existenziellen Erfahrungen eines Menschen da gar nicht vorkommen. Deswegen will ich ja die Menschen anregen, dass sie ihr eigenes Leben, ihr existenzielles Leben wichtig nehmen. Existenzielle Erfahrungen können ganz kleine Begebenheiten sein, etwa ein fünfminütiges Gespräch mit einem Menschen am Bahnhof, der einem wirklich etwas zu sagen hatte und den man vorher nicht einmal kannte und nachher nie wieder sieht. Ein solches Erlebnis kann das wichtigste Erlebnis eines ganzen Tages sein, während alles andere Routine ist und damit am Ende zu Recht verwest.
Weit weniger Wert messen Sie in Ihren Schriften und Vorträgen der Gesundheit zu.
Es herrscht heute ein utopischer Gesundheitsbegriff, der noch dazu sakral aufgeladen ist. Das ist ein entscheidendes Problem: Die Menschen glauben heute vielfach nicht mehr an den lieben Gott, sondern an die Gesundheit. Und alles, was man früher für den lieben Gott gemacht hat, wie wallfahren oder fasten, das macht man heute für die Gesundheit. Es gibt Menschen, die leben überhaupt nicht mehr richtig. Die leben nur noch vorbeugend. Und sterben dann gesund. Aber auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot. Leider.
Und was ist am Gesundheitsdenken nun so falsch?
Gesundheit ist ein hohes Gut, mit dem man verantwortlich umgehen muss. Aber es ist nicht das höchste Gut. Ich habe ja nichts dagegen, ein bisschen Fitness zu machen. Aber es gibt Menschen, die von morgens bis abends tatsächlich nur noch vorbeugend leben. Die essen den ganzen Tag Müsli und rennen mit heraushängender Zunge durch den Wald, anstatt beispielsweise Zeit mit ihren Kindern zu verbringen oder mit ihren Freunden zu reden.Im Übrigen möchte ich krank sterben und nicht gesund. Das wäre ja schade drum. Man ist vollkommen gesund und stirbt dann …
Sie sprachen zuvor davon, dass der Gesundheitsbegriff sakral aufgeladen sei.
Das hat auch damit zu tun, dass wir heute ein religiöses Vakuum haben. Man hat so lange auf das Christentum und die Kirchen eingeprügelt, dass die Menschen da keinen Halt mehr finden. Und dann stehen die Leute völlig ratlos und traurig herum, wenn irgendwelche Jungen zu Islamisten werden. Klar. Was soll denn die Alternative zum Islamismus sein? Etwa shoppen gehen? Oder einmal kurz ins Fitnessstudio? Wir haben lange Zeit auf unsere eigenen geistlichen Wurzeln eingeprügelt. Man sieht gar nicht mehr, dass in unseren eigenen geistlichen Wurzeln die Kraft liegen kann, sich die eigene Identität klarzumachen, damit man sich eben nicht in diesen ganzen künstlichen Welten verliert. Und in dieses religiöse Vakuum ist dann tatsächlich die Gesundheitsreligion eingetreten. Alle Phänomene, die es in der Religion gibt, gibt es heutzutage im Gesundheitswesen – der Übergang von der katholischen Prozessionstradition in die Chefarztvisite beispielsweise.
Heißt unter dem Strich, dass praktisch jeder ein falsches Leben lebt.
Na, so schlimm ist es auch wieder nicht. Es ist natürlich alles ein bisschen satirisch überzogen. Aber ich versuche, Menschen zu ermutigen, mit Gesundheit nicht so fanatisch umzugehen, sondern auf dem Teppich zu bleiben. Ich bin ja gar nicht dafür, dass man andauernd ungesunde Sachen isst, man kann ja durchaus mal auf gesunde Ernährung achten und nicht immer nur Fast Food essen. Aber mal richtig ungesund essen, fettreich, cholesterinreich und dazu ein guter Wein – das muss doch auch erlaubt sein! Im Übrigen ist die Freiheit einer freiheitlichen Gesellschaft auch die Freiheit zu einem ungesunden Leben.
Sie sagten in einem Interview, dass vor allem unsere genetische Ausstattung über ein langes Leben entscheide.
Ja. Das wird aber meistens geheim gehalten, weil es die Leute nicht so sehr motiviert, durch die Wälder zu rennen. Wenn Sie zwei Elternteile haben, die beide 100 Jahre alt geworden sind, dann können Sie ziemlich saumäßig leben, essen, was sie wollen, und müssen nicht viel Sport machen. Trotzdem werden Sie uralt. Wenn Sie dagegen zwei Elternteile haben, die mit 35 an Herz-Kreislauf-Problemen gestorben sind, dann hilft der Sport wahrscheinlich auch nicht viel.
Ergo muss das Motto „carpe diem“ lauten? Nutze den Tag? Nutze jede Gelegenheit? Lautet so Ihr Fazit?
Ja. Man muss sich klarmachen, dass man sterblich ist. Wenn ich jedem Leser dieses Interviews sagen könnte, wann er stirbt, das genaue Datum seines Todes, dann bin ich sicher, dass der morgen schon anders leben wird. Weil ihm klar ist: Das ist ein unwiederholbarer Tag weniger auf der Rechnung! Nun ist es aber so, dass wir alle sterblich sind und dass deshalb jeder Tag ein unwiederholbarer Tag weniger ist. Man kann nichts wiederholen! Wir leben heute in einer Videomentalität, ganz so, als könne man alles auf Video aufzeichnen und wiederholen; das ist Voraussetzung für fröhlichen Atheismus. Nichts kann man wiederholen! Im pompejanischen Bordell waren Totenschädel an die Wände freskiert, als Aufforderung: „Mensch, denke daran, dass du sterben wirst, und lebe jeden Tag lustvoll!“ Carpe diem, wie Sie gerade gesagt haben, pflücke den Tag. Und der Totenschädel beim heiligen Hieronymus in der Wüste heißt in gewisser Weise etwas Ähnliches: Christ, lebe jeden Tag ganz bewusst. Natürlich nicht im Bordell (lacht). Wenn man weiß, dass man definitiv nur noch zwei Wochen zu leben hat, dann wird man unter Garantie anders leben. Man wird mit Freunden reden, mit seinen Kindern, mit Familienangehörigen. Man wird sich vielleicht mit seinen Feinden versöhnen oder nochmals an Orte gehen, die einem früher viel bedeutet haben. Man wird Musik hören. Und Kunst betrachten. Kurz gesagt: Man wird existenziell leben und versuchen, in dieser kurzen Zeit wirklich Wichtiges zu erleben. Und mein Appell lautet, dies nicht erst in der Sterbephase zu machen. Sondern vielleicht schon mal vorher.
Vielen Dank für das Gespräch!
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