
Welche Objekte erklären ein Land?
Was das Publikum kaum je zu sehen bekommt, ist die eigentliche Seele des Museums: das Depot. Dieses Bild mag etwas schwülstig scheinen. Aber es drückt viel besser als manche wortreiche Beschreibung aus, dass das, was im Museum in Ausstellungen zu sehen ist, nur ein kleiner Teil der Sammlung ist. Und sozusagen auch nur ein kleiner Teil des Problems: Das Depot ist stets zu klein, und alle paar Jahre tritt eine Platznot ein. Erweiterungen sind laufend notwendig, aber selbst der großzügigste Ausbau verspricht keine Lösung des Problems. Dieses ist so gravierend, dass man sogar schon das Thema „Entsammeln“ auf die Agenda mancher Fachtagung gesetzt hat. Im Zentrum steht dann die heikle Frage: Was kann ein Museum entsorgen? Was ist entbehrlich?
Faktum ist, dass ein großer Teil der im Depot lagernden Objekte kaum je für Ausstellungen brauchbar ist – ganz einfach deshalb, weil man zu wenig über sie weiß. „Das Objekt erzählt eine Geschichte“, so hört man es oft im museologischen Kontext. Aber in Wahrheit erzählen die Objekte gar nichts. Man kann versuchen, ihr Alter und ihre Herkunft zu erforschen, herauszufinden, wer sie hergestellt und wer sie verwendet hat, und wie sie ins Museum gekommen sind. Diese Recherchen gelingen meist nur teilweise, in vielen Fällen gar nicht. Im Rahmen einer Ausstellungsvorbereitung ist ein solcher Aufwand in der Regel nicht möglich. Es fehlt an Zeit und Geld.
Das zeigt, dass die Art und Weise des Sammelns problematisch war – und noch immer ist. Man sollte es heute besser machen, aber wie? Ein beliebter Begriff im Museumszusammenhang lautet „Sammlungsstrategie“. Wenn man den Terminus mitsamt seiner militärischen Herkunft ernst nimmt, würde das bedeuten: Der Museumsdirektor entwirft den Plan für das Sammeln in sämtlichen Bereichen seines Hauses, sowohl was vergangene Epochen als auch was die Gegenwart betrifft. Die Kuratoren erwerben nach diesen Vorgaben, an deren Entwicklung sie natürlich mitwirken durften, und nehmen dementsprechend Schenkungen an oder lehnen sie ab. Denn selbst ein geschenktes Objekt kann immense Kosten verursachen. Und bei Weitem nicht jedes schöne Ding ist in der Lage, einen Beitrag zur Erklärung von Geschichte und Kultur des Landes zu leisten.
Es zeigt sich außerdem, dass man das, was das Objekt zeigen soll, meist nur durch weitergehende Forschung sichtbar machen kann, etwa durch Archivarbeit oder Interviews. Die Geschichten, die zusammen mit den Objekten etwas erhellen, also Zusammenhänge klären, die sind es also, die man sucht und braucht. Eigentlich müsste man daher Geschichten sammeln und um diese Geschichten herum dann die Objekte. Manche Ausstellungsmacher gehen längst so vor: Der legendäre, 2005 verstorbene Kurator Harald Szeemann gehörte zu diesen.
Eine weitere Frage taucht auf: Welche Geschichten, welche Objekte, welche Zusammenhänge sind spezifisch für Vorarlberg? Wie werden die Eigenheiten des Landes dargestellt? Welche wären die hundert Schlüsselobjekte, die die Vorarlberger Geschichte und Kultur, die Besonderheit seiner Gesellschaft und Landschaft am besten erklären? Gibt es einzelne Dinge, die in Vorarlberg Bedeutung haben, sonst aber nirgends? Der Rasenmäher etwa spielt im Ländle eine ganz besondere Rolle, aber ist das in Thurgau oder in Hessen oder in US-amerikanischen Vorstädten nicht auch der Fall?
Man könnte die Biografien landläufig bekannter Originale erforschen – versuchen, Figuren wie den Dornbirner „Rot Hannes“ oder den „Schlauen“ aus Lustenau fassbar zu machen. Oder man begibt sich auf die Suche nach Objekten, anhand derer man die Vorarlberger Akademikerquote erklären könnte. Die ist mit Abstand die niedrigste in ganz Österreich und liegt selbst im OECD-Vergleich ganz hinten. Gebrauchte Plüschtiere, die alljährlich auf dem Dornbirner Flohmarkt tonnenweise zum Kauf angeboten werden (was für ein Milbenfriedhof!), könnten etwa für die hohe Geburtenrate stehen, die Vorarlberg seit jeher auszeichnet. Oder ein paar Rasenmäher und Laubbläser könnten die hiesigen Reinheits- und Ordnungsvorstellungen symbolisieren – „Grüß di Gott, mi subrs Ländle“, so beginnt eine alte Volksweise.
Für alle sichtbar und vor allem hörbar: Der Rasenmäher beherrscht die Samstage, wenn alle Gartenbesitzer gegeneinander antreten, den eigenen Rasen noch exakter zu trimmen als der Nachbar. Ob sich die stillen Rasenroboter durchsetzen werden? Der Rivalitätsgeist kann sich dann immer noch mit dem Laubbläser austoben und den Dreck aufs benachbarte Grundstück expedieren.
Als man vor 150 Jahren in Vorarlberg für Museumszwecke zu sammeln begonnen hat, orientierten sich die Mitglieder des Museumsvereins zwangsläufig an den zeitgenössischen Werten und Idealen. Die Auffassung von Geschichte und Kultur hat sich seither verändert. Leiteten vormals Volkscharakter und Herkunftsmythen das Sammeln an, so ist es heute neben der Kunst die Alltagskultur mit ihren Artefakten. Letztere bedeuten im Depot allerdings ein Ärgernis. Sie sind schmutzig und restaurierungsbedürftig, verursachen jede Menge Kosten und haben keinen nennenswerten Marktwert. Und zu alledem: Sie sprechen nicht für sich. Die Museumsstrategie muss also der Maxime folgen, auf die Jagd nach Geschichten, nach Erzählens- und Berichtenswertem zu gehen.
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