
Wieso die Massen, wenn man auch Leere haben kann
In Wien feiern die Touristiker das Rekordjahr 2024 und hätten sogar gern noch mehr Gäste, obwohl die Stadt schon übergeht und Einheimische über „Overtourism“ klagen. In Vorarlberg lief es auch super. Dennoch geht’s hier ruhiger, entspannter und ohne nervige Schlangesteher- und Rollkoffermassen ab.
Da ist dieses Bänkle. Ein schlichtes aus hellem Holz. Es steht am Pfänder, an einem von Steinen gespickten, von Wurzeln durchaderten Pfad, der oberhalb von Bregenz etwa zehn Gehminuten von der Fluh entfernt am Hang des Hennabühels mündet, wo im Sommer Kühe weiden. Bergseitig hinter der Bank eine Wand aus Bäumen, die Aussicht über den Bodensee ist genial. Es ist meist einsam hier.
An dem Jännertag spielte das Wetter alle Register, kalter Wind drückte Wolkenbänke gegen den Pfänder, ab und zu brach die Sonne durch, dann zog‘s wieder zu und es regnete. Ich saß auf dem Bänkle, als sich eine Familie näherte: ein Büblein, etwa drei Jahre, seine Mutter in ihren Zwanzigern und zwei ältere Frauen. Der Bub zeigte zu mir her und sagte: „Auf die Bank. Sitzi!“ Er setzte sich neben mich, dann die Mami. Ich bot den zwei Damen meinen Platz an, aber sie meinten, es passe schon.
„Jessas“, sagte ich zur Mutter und deutete aufs Kind. „I bin jetzt Anfang fuffzig, und wo i so klen wår, bin i o scho do g’hockat.“ – „Mir kummen zwoamol die Woche her“, erwiderte sie. „Es isch an schöana Ort.“
Die Bank war irgendwie schon immer da. Man sieht sie auf Fotos meines Vaters aus den 1970er-Jahren. Damals und später saßen hier auch meine Tante und ihr Mann (mein Onkel), ein Franzose, beide seit Langem tot, und ihre Kinder, meine Cousins, heute in ihren Siebzigern. In dem Vierteljahrhundert, da ich nun im Wiener Raum lebe, rastete ich dort bei vielen Heimatbesuchen und kritzelte manchmal meine Initialen plus das Datum drauf, was irgendwann wieder weg war, weil jemand das Bänkle erneuert hat.
Ich kenne den Anblick des Bodenseeraums von hier aus zu jeder Jahreszeit, und den der Bäume im Umkreis, die Laubbäume in ihrem Zyklus vom Winterskelett übers frische Knospen und dichte sommergrüne Blattwerk bis zur Abschiedsgala in Gelb, Rot, Braun. In vielen Gemütslagen saß ich hier, von Trauer über entspannte Ambivalenz bis zu Euphorie. Im Wiener Raum fand ich keinen gleichwertigen Kraftplatz, außer eventuell die Himmelswiese am Cobenzl mit Blick über die Stadt oder den kleinen Altar mit den vielen Kerzen im Stephansdom rechts nach dem Haupteingang, wo du aber nie allein bist.
Auf dem Bänkle kamen mir zwei Gedanken: Dass dieser Ort für den Buben so wichtig bleiben könnte wie mir. Und: die Schönheit der hiesigen Leere, der Abwesenheit der Massen. Das galt auch fürs Wandern zur Pfänderdohle und retour zur Fluh, für Spaziergänge am See, für den Aufstieg von Wolfurt zum Dreiländerblick in Bildstein, für Bregenz sogar. Es war 180 Grad anders als das, was sich seit Jahren in Wien abspielt und immer mehr Leute dort nervt. Hier sei meine Schulfreundin Kyra zitiert, die in Tübingen lebt, Wien gut kennt und mir jüngst nach einem Besuch dort schrieb, dass die Stadt garstig geworden sei:
„Bin erschrocken über die Massen an Touristen und die Schlangen vor vielen Lokalen. Ist das immer so? Hatten im Central zum Glück eine Reservierung, aber sind fast gekillt worden, als wir an der Schlange vorbei sind.“
Wien ist seit den 2010ern immer voller geworden, was teils an der launigen Willkommenspolitik der Stadtregierung liegt, vor allem aber an den Touristen (bisweilen spricht man von „Horden“). Sie kommen dir oft in fast militärischer Formation in Vierer- bis Achterreihen entgegen, dazu nebeneinander gehende Rollkoffer-Rumpler. Vor Geschäften und Lokalen Schlangen (wieso tut man sich so was Entwürdigendes an?). Viele Lokale sind längerfristig ausreserviert, in Läden und Sehenswürdigkeiten Menschen dicht an dicht, Rucksäcke drücken gegeneinander, blockierte Durchgänge, penetranter Parfumgeruch, zu viele Gucci-Girls und Touris, denen man anmerkt, dass sie nicht wirklich wissen, wo sie sind, aber vor allem Selfies posten wollen.
Speziell zentrale Gegenden machen immer weniger Spaß, und nicht nur in Extremen wie im Advent, um Silvester, zu Ostern und im Sommer: An einem normalen Wochentag Anfang November etwa schaute ich probehalber um zehn Uhr Vormittag zum Café Central. Dort standen schon ein Dutzend Touris an wie Bittsteller. Auch im Jänner wirkte Wien übergut besucht.
Jüngst bejubelte Wiens Wirtschaftskammerchef, Walter Ruck, den auch bundesweiten Tourismusrekord 2024: Fast 47 Millionen Ankünfte aus- und inländischer Gäste ergaben 154 Millionen Nächtigungen. Rund 8,1 Millionen dieser Gäste kamen nach Wien (Rang 2 nach Tirol), nach Vorarlberg circa 2,7 Millionen (Rang 8). Ins Zwei-Millionen-Bundesland Wien (414 km2) quetschten sich also übers Jahr fast 20.000 Personen zusätzlich pro Quadratkilometer, ins Ländle (~410.000 Einwohner auf 2600 km2) nur gut 1000. Auch wenn man einschränkt, dass hier der Dauersiedlungsraum (Flächen für Wohnen, Wirtschaft, Verkehr, Kultur, Freizeit, auch agrarische Zonen; also Gebiete, wo Leute im Alltag mehr oder weniger umgehen) nach Abzug von Gebirge, Wald, Ödland nur ein Fünftel der Landesfläche beträgt, so verdünnt sich der Zustrom dennoch stärker als in Wien.
Ruck sagte, dass in Wien sogar „noch mehr geht“: Man müsse Leute auch in andere Gegenden lenken und in schwächeren Reisezeiten anlocken. Viel Spaß! Viele Bezirke wie Meidling, Brigittenau, Favoriten sind mäßig attraktiv, ja werden oft mit dem Präfix „Problem“ versehen, dort zieht‘s nicht einmal andere Wiener so hin. Und die Zeiten der Halb-Flaute will man auch stopfen mit Rollkoffer-Rumplern und Schlangestehern? In Medien gab es Kritik: Man dürfe „die Toleranz der Wiener nicht überschätzen“, die Stimmung sei an der Kippe. Stichwort: Overtourism.
Tourismus ist auch in Vorarlberg wichtig, er verursachte zuletzt fast 20 Prozent der Wertschöpfung. Aber es bleibt im Rahmen. In Bregenz, in manchen Tälern und Berggebieten mag es saisonal wuseln, klar sind da die Staus in die Schigebiete, aber echt: kein Vergleich zu Wien! Es scheint in V auch keine gröbere Overtourism-Debatte zu geben.
Gut, dass es manche Magnete hier eben nicht gibt: Keine Prunkbauten imperialen Formats, keine Riesenkirchen und -Museen, keine gehypten Kaffeehäuser, keine endlosen Shoppingmeilen, wo man ohnehin großteils globale Massenware findet, von Breitling über Dior bis Swarovski. Dafür sind in V sagenhafte Bergwelten, lauschige Ufer, der Milchpilz, der Radweg im Tal der Bregenzer Ach, die Rankler Bergkirche, die Üble Schlucht, Viktorsberg, die Feldkircher Altstadt, die tausendjährige Eibe von Tosters, das Rheinbähnle, das Kunsthaus Bregenz, Käs, Riebel, Moscht, Subirer. Der Pfänder und das Bänkle am Hennabühel. Und selten Massen.
Reicht doch. Drum ist’s entspannter hier und macht einen glücklich.
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