Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Das ist nicht nur besonders bösen Menschen vorbehalten“

April 2025

Die Tage der Utopie brechen wieder an, im Rahmen des Festivals wird auch Liya Yu in Vorarlberg sein. Die politische Philosophin widmet sich einer recht neuen, aber umso interessanteren Richtung der Politikwissenschaften: Der Neuropolitik. Im Interview vorab sagt Yu, dass das menschliche Gehirn bewusst und unbewusst die Basis all unserer politischen Entscheidungen ist. Ein Gespräch über Dehumanisierung, das kontraproduktive Moralisieren der Woken – und die Angst der Rechtspopulisten vor der Zukunft.

Frau Yu, Sie sind Neuropolitikerin. Was hat es damit genau auf sich?
Neuropolitik geht davon aus, dass das menschliche Gehirn die Basis all unserer politischen Entscheidungen und Handlungen ist. Bewusst und unbewusst.

Das müssten Sie erklären.
Zu Zeiten der Bürgerrechtsbewegung begann die Sozialpsychologie die dehumanisierende Ungleichheit zwischen weißen und schwarzen Menschen in den USA zu erforschen. Rassismus war trauriger Alltag, doch kaum ein Weißer nannte sich in Umfragen selbst rassistisch. Die Frage, die sich die Forscher stellten, war also folgende: Wie lässt sich messen, was der Mensch selbst nicht zugeben will? Also begannen sie zu forschen. Sie maßen etwa in Studien, dass viele weiße Menschen unbewusst buchstäblich zu schwitzen begannen, wenn ein Schwarzer den Raum betrat. Das waren die wissenschaftlichen Anfänge. Heute stehen der Neuropolitik Hirnscans und andere beeindruckende Methoden zur Verfügung, um unbewusste Reaktionen zu messen. 

Was passiert im Gehirn, wenn ein Mensch den anderen dehumanisiert, also entmenschlicht?
Wir schalten unbewusst den medialen präfrontalen Cortex ab, also jenes Hirnareal, das wir normalerweise für Empathie benötigen. Es werden dieselben Hirnareale aktiviert, mit denen man ansonsten Gegenstände betrachtet. Man betrachtet einen Menschen dann nur mehr als Objekt, nicht mehr als Menschen. Man sieht ihn mit völliger Gleichgültigkeit. Man kann sich nicht mehr vorstellen, was diese Person denkt, was sie fühlt, was sie tun wird.

Und die Folgen sind …
Studien beschreiben die Folgen dieser Dehumanisierung etwa im israelisch-palästinensischen Konflikt. Man sieht sie auch an unserem Umgang mit Roma und Sinti oder mit Flüchtlingen. Es gibt in jeder Gesellschaft Gruppen, die extrem dehumanisiert werden. Für Obdachlose gilt das in besonderem Maß, das haben wir in Studien in Europa, in den USA und in Asien nachgewiesen. Aber es ist wichtig, eines zu verstehen: Dehumanisierung ist nicht nur besonders bösen oder moralisch sehr verworfenen Menschen vorbehalten.

Interessant.
Früher ging man davon aus, dass nur die allerschlimmsten Menschen unter bestimmten Umständen imstande sind, andere zu dehumanisieren. Dank Hirnscans weiß man heute, dass wir alle dazu fähig sind. Wir alle dehumanisieren andere Menschen, und das täglich. Würde ich jeden humanisieren, der mir täglich über den Weg läuft, wäre ich am Abend platt. Dann wäre ich kognitiv am Ende. Würde ein Chirurg seine Patienten nicht dehumanisieren, könnte er seine Arbeit nicht erledigen. 

Sprechen wir über die negativen Seiten der Dehumanisierung?
Es gibt Arten der Dehumanisierung, bei der Aggressivität eine Rolle spielt. Da geht es um eklatante Entmenschlichung. Wenn Menschen etwa ganz explizit als Ungeziefer, als Dreck, als Müll bezeichnet werden. Das kann man auch im europäischen Kontext sehen: Als es um den Brexit ging, wurden in Großbritannien polnische Menschen vielfach als „Ungeziefer“ beschimpft. Und Ungarns Ministerpräsident Orban hat seine politischen Gegner erst vor kurzem „Wanzen“ genannt. Dehumanisierungsforscher blicken übrigens generell öfter nach Ungarn, weil es dort traurigerweise viel zu untersuchen gibt, am Umgang mit Migranten, mit Sinti und Roma, mit Homosexuellen.

Sie sagten in einem Interview, dass unsere Gehirne Menschen seit jeher nach Zugehörigkeit einteilen, in eine Ingroup und eine Outgroup. Kann das den Vormarsch rechtspopulistischer Parteien erklären?
Vorurteile, Freund-Feind-Denken, blitzschnelle Stereotypisierung haben uns evolutionär für lange, lange Zeit geholfen, in kleinen, sozialen Gruppen zu überleben. Es gibt also eine gewisse vormoderne Prägung unseres Hirns. Aber das ist nicht der einzige kausale Grund, warum wir den Vormarsch rechtspopulistischer Parteien sehen. Die Emotion „Furcht“ ist auch von zentraler Bedeutung.

Soll heißen?
Rechtspopulisten und auch Konservative können mit offenen Zukunftsszenarien nicht gut umgehen. Ihre Furcht- und Angstsensibilität ist sehr viel höher. Für Liberale ist die offene Zukunft eine Möglichkeit, für die von Furcht geprägten Rechtspopulisten und Konservativen eine Bedrohung. 

Und das kann die Hirnforschung tatsächlich nachweisen?
Ja! Liberale Menschen haben eine größere, graue Hirnmasse. Der anterior cingulate Cortex ist das Hirnareal, das für Ambiguitätstoleranz zuständig ist. Das heißt, dass Liberale sehr viel besser mit Mehrdeutigkeiten umgehen können. Sie nehmen sich nicht sofort dehumanisierend eine migrantische Gruppe als Sündenbock heraus, wenn in der Gesellschaft etwas schiefläuft. Man muss aber auch beachten, dass neben der Neurobiologie auch andere Faktoren, wie Ideologie eine Rolle spielen. Wähler rechtspopulistischer Parteien haben ja nicht nur eine Tendenz zur Dehumanisierung, sondern widersprechen auch inhaltlich der vorherrschenden Politik. Für sie wäre die internationale politische Ordnung nach Ende des Kalten Krieges anders zu gestalten. 

Wie meinen Sie das?
Zum einen ist eine offene und liberale Zukunft tatsächlich sehr ungewöhnlich für das menschliche Hirn. Zuvor war dem Menschen die Zukunft immer klar vorhergesagt worden, von Kaisern und Königen, von Religionen und anderen rigiden Systemen. Dass Individuen die Zukunft selbst gestalten sollen, das ist absolut revolutionär für unser Hirn, eine immense Herausforderung. Und zum anderen hat man global als auch für den Mikrokosmos der Menschen eine weitere Frage vollkommen unterschätzt: Ob der Mensch die Werte, die sich der Westen gegeben hat, in einer hyperdiversen, hypermobilen Welt langfristig überhaupt ausleben kann. Nehmen wir doch ihr Bundesland als Beispiel.

Gerne!
Vorarlberg hat zwar nur etwas mehr als 400.000 Einwohner. Aber all das, was die Menschen global beschäftigt, ist auch bei Ihnen ein Thema: Multikulturalismus, Industrialisierung, Umwelt, Ungerechtigkeiten, Genderdebatten und vieles andere. Das Land ist urban, es ist gemischt, mit verschiedenen Generationen, Kulturen und Interessen. Deshalb ist auch das Vorarlberg des 21. Jahrhunderts für das Hirn überwältigend. Diese sehr abstrakten Werte täglich zu leben, das Gehirn sich selbst überwinden zu lassen, um mit Menschen zu kooperieren, die man nicht als Teil seiner „In-Group“ sieht, das ist eine Herausforderung. Und mein Punkt ist folgender: Ich sage, dass die Werte, die wir uns bezüglich Demokratie, Toleranz, Diversität erschaffen haben, für unsere Hirnfähigkeiten eine tägliche Herausforderung sind. Obwohl sich doch noch genügend Vorarlberger und Europäer zu den Werten bekennen, reicht das nicht aus. Wir müssen in unserem Bildungssystem, in der Politik, in der Wirtschaft lernen, wie wir diese Werte trotz unserer vormodernen kognitiven Tendenzen umsetzen können. Es braucht dazu einen kompletten Paradigmenwechsel und eine neue Sprache. 

Inwieweit?
Der Diskurs geht davon aus, dass Werte ein quasi unerschöpflicher Brunnen sind, aus dem der Mensch täglich schöpfen kann, wenn er sich einmal dazu bekannt hat, Demokrat und Gutmensch sein zu wollen. Die Neuropolitik sagt, dass dem leider nicht so ist. Unsere Empathie-Fähigkeit hat Grenzen. Das wird aber nicht verstanden. Ganz im Gegenteil. Wer in diesem moralisierenden Wertediskurs Zweifel anmeldet, wird ausgegrenzt und damit ebenfalls dehumanisiert. Nehmen wir als Beispiel die Pandemie? An sich ist es ja keine schlechte menschliche Fähigkeit, Autorität zu hinterfragen. Der Mensch hat ja auch ein Recht darauf, nicht mit allem inhaltlich übereinzustimmen, was von der Politik geliefert wird. Was aber hat man gemacht? Man hat den Zweiflern und Kritikern gesagt: ‚Ihr spinnt doch komplett!‘ Und das führte zur Meta-Dehumanisierung einer ganzen Menschengruppe, die damit immer mehr in ihre extremen Ecken gedrängt wurden. Wer sich dehumanisiert sieht, kooperiert nicht mehr, sondern reagiert mit Trotz, schlimmstenfalls auch mit Aggression. Aber auf eines reagiert er ganz gewiss nicht mehr: Auf moralisierende Appelle. Und da wundert man sich über den Stimmenzuwachs populistischer Parteien?

Dieses Moralisierende der linken Woken nützt genau gar nichts? Ist sogar kontraproduktiv?
Ist sogar kontraproduktiv, korrekt. Das sieht man ja an den Wahlergebnissen. Das ist ein Aufbegehren der Menschen gegen diesen Diskurs, weil viele das Gefühl haben, dass das ihnen aufgedrückt wurde. Das moralische Shaming der linksgrünen Mitte ‚Wir sind die Guten, Ihr seid die Bösen‘ führt dazu, dass sich viele Menschen dehumanisiert fühlen. Und deswegen aus Trotz erst recht AfD wählen. Oder die Linke. Und wir werden in Zukunft eine noch weitergehende tiefe Polarisierung erleben. Ich nenne das einen Realitätskampf. Wir kommen nicht mehr auf den gleichen Nenner, was politische Realität eigentlich ist. Der Dialog ist zusammengebrochen, wir sehen heute den Kollaps unseres Wertesystems. Es ist die Zeit der neuroaffektiven Erschöpfung angebrochen.

Kann es da überhaupt einen Ausweg geben? Eine Einigung?
Ja, ich glaube daran, dass das gelingt. Weil Neuropolitik eigentlich eine positive Theorie ist. Wenn wir uns selbst verstehen, wenn wir unsere eigenen Hirne verstehen, dann können wir der neuroaffektiven Erschöpfung und vielen unserer dehumanisierenden Tendenzen entgegenwirken. Neuropolitik ist eine Möglichkeit, die Mechanismen zu verstehen, aufgrund derer wir politisch handeln. Sie ist ein Einblick in diese Blackbox namens Gehirn. Das menschliche Hirn hat die evolutionär bedingte Fähigkeit zur Ausgrenzung, aber auch die Fähigkeit, diese Ausgrenzungstendenzen zu überwinden. Ist man sich bewusst, dass man jemanden dehumanisiert, kann man den Vorgang auch wieder umkehren, durch Mentalisierung, wenn man sich also in einen anderen Menschen hineinversetzt. 

Lautet so Ihr Fazit?
Man kann Dehumanisierung nicht völlig ausmerzen. Aber man kann sie managen. An Berliner Schulen betreibe ich entsprechende Aufklärungsarbeit. Indem ich beispielsweise Jugendliche in kleinen Gruppen zusammenbringe, die sonst nie zusammenfinden würden. So lernen sie sich kennen, so humanisieren sie sich gegenseitig. Es bringt nichts, vorne am Pult zu stehen und den Jugendlichen eine Moralpauke zu halten, wie böse doch Rassismus ist. Im Übrigen gibt es auch für Erwachsene recht einfache Strategien, um andere Menschen zu humanisieren. Auch wenn das banal klingt, und im heutigen moralischen Diskurs verlacht würde: Sie müssen sich nur fragen, ob beispielsweise ein Obdachloser, an dem sie vorbeigehen, lieber Brokkoli oder Karotten mag.

Wie bitte?
Wenn Sie sich fragen, welches Gemüse dieser Mensch gerne mag, motivieren Sie Ihr Hirn bereits dazu, über ihn nachzudenken. Und damit humanisieren sie diesen Menschen. Studien in den USA haben das nachgewiesen. Probieren Sie es einfach aus!

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Liya Yu
ist eine neuropolitische Philosophin. Als Kind chinesischer Einwanderer wuchs sie in Deutschland auf und studierte an der University of Cambridge und Columbia University in New York, wo sie 2022 ihr US Buch „Vulnerable Minds: The Neuropolitics of Divided Societies“ veröffentlichte. Als zivilgesellschaftliche Aktivistin ist Dr. Liya Yu zu den Themen Rassismus, Polarisierung und Demokratisierung in Europa und Ostasien aktiv. Im Jänner 2026 erscheint ihr deutsches Buch bei Ullstein.

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