Wolfgang Weber

Er etablierte 2003 die Grundlagenlehr­veranstaltung „Politische Bildung“ für Lehramtsstudierende in Geschichte und Sozialkunde an der Universität Innsbruck. Neben der Lehre ist seine Fachexpertise als demokratiepolitischer Bildner auch in Vermittlung und Forschung gefragt, etwa bei Ausstellungsprojekten mit Klassen der Mittelschule Lauterach (2006) und des Bundesgymnasiums Lustenau (2008) und gegenwärtig als Fachexperte im EU-finanzierten Forschungs- und Vermittlungsprojekt „World Class Teacher“ mit Standorten in England, Österreich, Polen und der Slowakei.

Das andere Kriegsjubiläum 2014

September 2014

Nahezu unbemerkt jährt sich im September 2014 ein historischer Tag: der Beginn des Zweiten Weltkriegs, der für Millionen Menschen Tod und Vernichtung bedeutete.

Nicht oft liegen die Verbindungen von historischen Jubiläen so nahe wie bei den 2014 zu gedenkenden zwei Kriegsausbrüchen vom August 1914 und vom September 1939. Überraschenderweise wird darauf bei den vielen Gedenkfeiern zum 100-jährigen Beginn des Ersten Weltkriegs wenig reflektiert.

Die Zeitgenossen und die auf deutscher Seite politisch und militärisch Verantwortlichen der Zwischenkriegszeit erkannten derartige Verbindungen im letzten Friedenssommer 1939 sehr klar. Unter dem Vorwand einer Gedenkfeier für die 25 Jahre zuvor für das kaiserliche Deutschland siegreiche Schlacht von Tannenberg verlegte das Oberkommando des Heeres im Sommer 1939 Infanterie- und Panzerdivisionen nach Ostpreußen. Die in Bregenz erscheinende Wochenzeitung „Vorarlberger Landbote“ erinnerte am 27. Juli 1939 daran, dass im August 1914 der Erste Weltkrieg begonnen hatte und Deutschland Ende August 1914 bei der Schlacht von Tannenberg einen großen Sieg gegen Russland feiern konnte. Am 2. August 1939 fand daher in Bregenz beim Raczynski-Kriegerdenkmal eine große Tannenberg-Gedenkfeier statt.

Wenig Euphorie, harte Einschnitte

Vier Wochen später – am 1. September 1939 – verkündete Adolf Hitler in einer Rede vor dem Deutschen Reichstag, die im Rundfunk übertragen wurde, dass reguläre Einheiten der polnischen Armee die deutsche Grenze überschritten hätten, woraufhin er den Befehl zum „Zurückschießen“ gegeben habe. Im Unterschied zum Kriegsbeginn im August 1914, als Euphorie und Patriotismus vorherrschten, waren die Menschen in Vorarlberg im September 1939 abwartend bis skeptisch. Sie hatten wenig Verständnis für die aufgrund des Kriegsbeginns verspätete Aufnahme des Schulunterrichts, das Verbot des privaten Schiffsverkehrs auf dem Bodensee, die Untersagung von Tanzveranstaltungen, das Einstellen des Kirchengeläuts oder eine zur Finanzierung des Kriegs eingeführte Steuer, die die Löhne und Gehälter zusätzlich mit acht bis 16 Prozent belastete. Die wirtschaftliche Lage im Sommer 1939 war nämlich keineswegs vielversprechend: Die Einkommen in Vorarlberg lagen um ein Drittel unter jenen in Deutschland. Die Preise waren seit dem „Anschluss“ im März 1938 um ein Drittel gestiegen. In der Textil- und Lebensmittelindustrie kündigten sich wegen Rohstoffmangels Kurzarbeit und Entlassungen an. Die Wochenarbeitszeit wurde für Frauen auf 56 und für Männer auf 65 Stunden erhöht. Schließlich war in Vorbereitung des Kriegs bereits im August 1939 die Lebensmittelbewirtschaftung verordnet worden, sodass ohne Bezugsmarken keine Güter des täglichen Bedarfs mehr gekauft werden konnten.

Einzelne hatten kurze Zeit nach Kriegsbeginn bereits den Mut, öffentlich gegen den Krieg zu protestieren. Alois Knecht, Pfarrer von Meiningen, wandte sich in seiner Sonntagspredigt am 17. September 1939 unter Berufung auf den Psalm 67,31 des Alten Testaments – „Herr, zerstreue die Völker, die Krieg wollen“ – gegen den deutschen Überfall auf Polen. Auch er nahm dazu eine Anleihe beim 25 Jahre zurückliegenden Beginn des Ersten Weltkriegs. Pfarrer Knecht erinnerte in seiner Predigt daran, dass Papst Benedikt XV. den Ersten Weltkrieg als „ehrlose Menschenschlächterei“ bezeichnet hatte.

Drei Wochen nach seiner Predigt, am 10. Oktober 1939, wurde Pfarrer Alois Knecht von der Gestapo verhaftet und über das Gefängnis in der Bregenzer Oberstadt erst ins Konzentrationslager Sachsenhausen, dann ins Konzentrationslager Dachau eingewiesen. Er überlebte. Andere nicht: Bis 1945 starben über 80 Vorarlbergerinnen und Vorarlberger in Gefängnissen und Konzentrationslagern, weil sie sich gegen das NS-Regime gestellt hatten.

Die ersten Vorarlberger Kriegstoten jedoch waren jene, die als Soldaten der deutschen Streitkräfte in Polen fielen. Darunter waren ausgewiesene Nationalsozialisten. So etwa der Dornbirner Gustav Wagner-Wehrborn: Er war Frontoffizier im Ersten Weltkrieg. 1933 baute er in Vorarlberg einen sogenannten SA-Motorsturm auf. Mit diesem betrieb er Propaganda für die ab Juni 1933 in Österreich verbotene NSDAP. Im Oktober 1938 war er als Soldat der deutschen Streitkräfte bei der Okkupation des Sudetenlandes dabei. Am 1. September 1939 marschierte er in Polen ein. Am 9. September 1939 wurde Wagner-Wehrborn bei einem Aufklärungsgang nahe Jaslo so schwer verwundet, dass er zwei Tage später im Lazarett seinen Verletzungen erlag.

Eine traurige Bilanz

Im Unterschied zu den rund 8000 Vorarlberger Gefallenen und Vermissten, die ihm bis 1945 folgen sollten, wurde sein Tod öffentlich zelebriert. Auf einer Tribüne am Dornbirner Zanzenberg versammelten sich am 1. Oktober 1939 neben der Familie des Gefallenen die höchsten nationalsozialistischen Funktionäre Vorarlbergs. Sie würdigten Wagner-Wehrborn als einen „politischen Soldaten des Führers“ Adolf Hitler, der nun das größte Opfer, nämlich jenes „des Todes für Volk und Führer“, gebracht hätte. Auf diese Weise versuchte der NS-Staat, den Tod eines Soldaten als politische Tat zu stilisieren und für andere zum Vorbild zu machen.

Am 1. September 1939 erging neben dem Einmarschbefehl nach Polen noch ein weiterer Befehl Adolf Hitlers, der Zehntausende unschuldige Menschen das Leben kostete: In einem fünfzeiligen Schreiben ordnete Hitler an, dass die ärztlichen Befugnisse in NS-Deutschland dahingehend erweitert werden sollten, dass Ärztinnen und Ärzte unheilbar Kranken den „Gnadentod“ gewähren“ sollten. Bis zu 300.000 Menschen mit Behinderungen wurden bis Kriegsende 1945 ermordet – 300 bis 400 davon stammten aus Vorarlberg. 2009 entschlossen sich Gemeinden der Regio Bregenzerwald, diesen Menschen in ihren vormaligen Wohnorten Denkmäler zu errichten – eine bis dato einmalige Aktion.

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