Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

Das visuelle Gedächtnis des Bregenzerwaldes

Mai 2023

Professionelle Fotografie im Bregenzerwald war im 20. Jahrhundert lange gleichbedeutend mit den Produkten aus dem Fotohaus Hiller in Bezau, war es doch lange Jahre das einzige Geschäft der Region, wo fotografische Dienstleistungen aller Art erbracht wurden. Von der Erstkommunion, der militärischen Einberufung, der Eheschließung bis hin zum Totenbett reichte das Spektrum der Ereignisse, an die man sich mit Hilfe einer Fotografie erinnern wollte. Zwischen 1922 und 1995 entstand dort ein einzigartiges Archiv mit etwa 100.000 Fotografien, das einerseits die Erfolgsgeschichte einer Fotografen-Dynastie dokumentiert, andererseits das visuelle Gedächtnis des Bregenzerwaldes repräsentiert. Ob in Form von Landschaftsbildern, Postkartenmotiven, Menschenporträts oder Fotografien über das Fotografieren, nahezu sämtliche Aspekte der sozialhistorischen Entwicklung des Bregenzerwaldes sind auf den Fotoplatten der Familie Hiller zu finden.
Der Gründer der Hiller-Dynastie war Johann Kaspar, der 1887 in Reuthe nahe Bezau geboren wurde. Mit vielfältigem künstlerischem Talent gesegnet, wurde ihm eine Ausbildung zum Bildhauer im Allgäu ermöglicht. Er experimentierte um 1910 gleichzeitig in den Gebieten der Malerei, der Bildhauerei und der Fotografie, musste dann aber im Ersten Weltkrieg als Soldat dienen. Sogar in den Krieg nahm er seine Kamera mit, und so entstanden an der italienischen Front viele bemerkenswerte Fotos. Nach seiner Heirat 1922 konzentrierte er sich vollends auf die Fotografie und richtete im Haus seiner Schwiegereltern ein fotografisches Atelier ein. Schon bald kamen aus dem ganzen Bregenzerwald Leute nach Bezau, um sich bei Hiller porträtieren zu lassen. War das Fotografengewerbe in den 1920-er Jahren noch nicht sehr einträglich, kam es in den 1930-er Jahren aufgrund des aufkommenden Fremdenverkehrs zu einer rasanten Zunahme des Postkartengeschäfts. Nicht selten kam es vor, dass Gasthäuser und Hotels 1000 Abzüge und mehr einer Hiller’schen Postkarte bestellten. Der Zweite Weltkrieg und damit verbundene Schicksalsschläge gefährdeten allerdings das florierende Geschäft. Kaspar Hiller sen. wurde noch 1944 zum Volkssturm eingezogen, später von den Nationalsozialisten verhaftet; er starb 1946 als gebrochener Mann in Seefeld an einer Lungenembolie. Sein Sohn Rudolf starb 19-jährig im Krieg und so übernahm Kaspar jun. den Betrieb für zwölf Jahre, bevor er 1958 sehr jung an einem Herzinfarkt verstarb.

Nun beginnt die sehr bemerkenswerte Geschichte der jüngeren Schwester Hedwig Hiller, die von einem Tag auf den anderen die Geschicke der Firma übernahm. So hielt sie den Betrieb sogar aufrecht, als am Tag nach dem Tod des Bruders 70 Erstkommunikanten zu Hillers kamen, um fotografiert zu werden, während der Bruder noch im Haus aufgebahrt war. Vorübergehend übernahm dann Melitta, eine weitere Schwester, das Geschäft, die aber dann heiratete und aus dem Betrieb ausschied. Die Liebe zur Fotografie und der Respekt vor dem, was der Vater in mühevoller Arbeit aufgebaut hatte, ließen Hedwig Hiller innert kürzester Zeit alle vorhandenen Defizite aufholen. Mit dem Praktischen seit der Kindheit vertraut, verschaffte sie sich schnell auch theoretische Kenntnisse und die formalen Qualifikationen. Nach der Lehre, verschiedenen Praktika bei renommierten Fotografen in Vorarlberg und Tirol sowie der erfolgreich absolvierten Gewerbeschule in Innsbruck, legte sie 1959 als erste Frau in Vorarlberg die Meisterprüfung als Fotografin ab. Frisch mit dem Tierarzt Julius Berchtel verheiratet, verwaltete sie nun nicht nur das Bestehende, sondern wurde sofort initiativ, indem sie das veraltete Geschäft von Grund auf modernisieren ließ. Vom Bezauer Architekten Leopold Kaufmann geplant, entstand in Bezau-Kriechere ein modernes Fotostudio, das rund um die zentrale Dunkelkammer gebaut wurde. Bis heute ein für Bezau ungewöhnliches und sehenswertes Gebäude, in dem sich mittlerweile die Architekten Innauer-Matt niedergelassen haben. Bis zu ihrer Pensionierung und der daraus resultierenden Schließung 1995 führte Hedwig Berchtel den traditionsreichen Betrieb. Die Digitalisierung und den großflächigen Niedergang des regionalen Fotografengewerbes musste sie zum Glück nicht mehr miterleben.

Hedwig Berchtel und ihre Kinder waren sich noch zu Lebzeiten bewusst, dass das Archiv von Foto Hiller von großer kulturgeschichtlicher Bedeutung ist. Die endgültige Einigung über die Übergabe an eine öffentliche Institution gelang aber erst nach ihrem Tod. Wegweisend war wohl die Expertise des Fotografen und Künstlers Arno Gisinger, der in regelmäßigem Kontakt mit der Familie Berchtel stand. Zuletzt waren es dann mehrere Institutionen, die jeweils ihre Stärken bei der Sicherung und Präsentation der Fotos einbringen konnten. Die Fotos selber liegen nun konservatorisch optimal gesichert in den Kühlräumen des Bregenzerwald-Archivs in Egg und sie konnten so in der Region verbleiben. Den dortigen Ortskundigen ist es zu verdanken, dass die Fotos ausführlich beschrieben und die meisten abgelichteten Personen identifiziert werden konnten. Die besten, repräsentativen Fotos wurden dann von der Vorarlberger Landesbibliothek digitalisiert und werden in Kürze in der Fotodatenbank „volare“ abrufbar sein. Der Höhepunkt der Aktivitäten rund um das Hiller-Archiv wird eine große Ausstellung im vorarlberg museum sein. Als Kurator der Ausstellung konnte eben der in Paris lebende Fotograf Arno Gisinger gewonnen werden, der sich seit vielen Jahren mit dem Hiller-Archiv beschäftigt. Den Grundstein für diese beispielhafte Kooperation haben aber die Hiller-Berchtel-Nachfahren mit der großzügigen Schenkung des Archivs gelegt. Mit ein bisschen Wehmut trennten sie sich vom über Generationen hinweg angesammelten Familienschatz, um den Weg für eine langfristige Sicherung und die kommende Ausstellung freizumachen.

Ausstellung im vorarlberg museum
„Hiller. Das fotografische Gedächtnis des Bregenzerwalds“
27. Mai 2023 bis April 2025
Eröffnung: 26. Mai 2023, 17 Uhr

Archiv online ab 26. Mai 2023 unter www.vorarlberg.at/volare

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