Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

Die Jagd nach dem Phantom

Februar 2023

Es muss wohl die Fantasie mit mir durchgegangen sein, als ich mich zu erinnern glaubte, dass der gelbe Streifen im gerade abgelösten Logo der Marktgemeinde Lustenau auf den legendären Goldschatz der Familie Kremmel Bezug nähme, auf den in Lustenau viele so lange große Hoffnungen gesetzt hatten. Die Rückfrage bei Reinhold Luger, dem damaligen Designer des Logos, holte mich zurück in die Welt der Realität, dass nämlich in Wahrheit das in Afrika so beliebte Gold in den Lustenauer Stickereien dafür verantwortlich sei.
Trotzdem lohnt es sich die Geschichte des „Kremmel-Erbs“ noch einmal zu erzählen, denn obwohl diese Legende jahrzehntelang die Lustenauer Bevölkerung beschäftigte, ist sie doch heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Der Überlieferung nach soll im 18. Jahrhundert ein Abkömmling der Lustenauer Familie Kremmel nach Russland ausgewandert und dort zu sagenhaftem Reichtum gelangt sein. Da – so die Legende – die Familie dort ohne rechtmäßige Erben um 1790 ausgestorben sei, erhoffte sich die Kremmel-Sippe in Lustenau als scheinbar nächste in der Erbfolge großen Reichtum, der sich über die Familie, wenn nicht sogar über das ganze Dorf ergießen würde. Ernsthafte Nachforschungen im Jahr 1890 in Moskau hatten allerdings keinen Hinweis ergeben, dass an der Geschichte das Geringste wahr sei, ja es konnte in Russland nicht einmal eine Familie Kremmel ausfindig gemacht werden. 
Obwohl schon damals den meisten klar war, dass man klassischen Fake-News aufgesessen war, flammte um 1900 die Suche nach dem Erbe erneut auf. Lustenauer Bürger hatten Jakob Mittelholzer, einen vertrauenswürdigen Mann aus dem benachbarten Marbach beauftragt, in Russland nach dem Schatz zu suchen. Nachdem auch er scheinbar erfolglos geblieben war, wurde er verdächtigt, seinen Auftraggebern nicht die ganze Wahrheit zu seinen Recherchen berichtet zu haben. Die Akten, die sich in dem Fall anhäuften, wurden von den Behörden nicht herausgegeben, worauf sich bei einem Ernst Nagel aus Lustenau der Verdacht erhärtete, dass die Wahrheit wohl eine andere gewesen sein musste. Er ließ mehrere Streitschriften („Die Wahrheit über die Kremmel’sche Millionenerbschaft und die in Verbindung mit dieser begangenen Verbrechen“) drucken, in denen Verdächtigungen in alle Richtungen ausgesprochen wurden. Am direktesten wurde ein Bankdirektor aus dem schweizerischen Au beschuldigt, der zeitweise die Vollmacht von Mittelholzer übernommen hatte, und ab diesem Zeitpunkt plötzlich sehr reich geworden sei. Die Schriften von Ernst Nagel wurden schließlich amtlich aus dem Verkehr gezogen und es ist von Glück zu reden, dass eines der schmalen Heftchen den Weg in die Landesbibliothek gefunden hat und dort erhalten blieb.
Nach dieser letztmals intensiv betriebenen Jagd nach dem sagenhaften Erbe war wohl allen Beteiligten klar, dass es nichts mehr zu holen gab, also näherte man sich der Sache nun literarisch und humoristisch an. 
1949 schrieb Beno Vetter (1882-1971), Schuldirektor aus Lustenau, einen volkstümlichen Roman darüber („Das Erbe des Alexander Kremmel“), wobei die Handlung das eigentliche Erbe nur am Rande streift. Vielmehr wird die Lebensgeschichte des Alexander Kremmel erzählt, den es im Krieg nach Russland verschlägt, der dort auf seine Verwandtschaft trifft, dann aber in Gefangenschaft gerät, fliehen kann, schließlich aber doch mit einem Sträflingstransport Richtung Sibirien deportiert wird. Alexander Kremmel, ein durch und durch redlicher Mann, gerät immer wieder unverschuldet in Schwierigkeiten, was zu guter Letzt auch verhindert, dass er wieder in seine alte Heimat Lustenau und zu seiner Jugendliebe zurückkehren kann. Beno Vetter, der für große Verdienste um seine Heimatgemeinde Lustenau mit dem Ehrenring ausgezeichnet wurde, schreibt im Nachwort etwas wehmütig, dass er den Lesern gerne ein Happy-End gegönnt hätte, das wahre Erbe des „Zander“ (Alexander) Kremmel nicht der erhoffte Reichtum, sondern etwas ganz anderes sei, nämlich „der Glaube an die Zukunft, der unverwüstliche Lebenswille, der uns Kraft verleiht, auch nach schwersten Rückschlägen wieder zum Spaten zu greifen und die Fundamente auszuheben für eine bessere Zeit.“ Diese Botschaft ist wohl auch im Licht der entbehrungsreichen Nachkriegszeit zu sehen, in der der Roman geschrieben wurde.
Einen anderen Zugang hat 1948 Hannes Grabher (1894-1965) gewählt, indem er sich in der für ihn so typischen humorvollen Art („’s Kremmel-Erb“, volkstümliches Lustspiel in Lustenauer Mundart in drei Akten) des Themas annahm. Die Handlung dreht sich natürlich auch hier um das vergebliche Bemühen, das riesige Erbe nun endlich an Land zu ziehen. Tauni Kremmel, der naive Bauer, behilft sich des Herrn Pollak, eines angeberischen Erbschaftsbetreibers, dessen Schwindeleien aber von Rösli, der Tochter, und Nanni, der Ehefrau, bald durchschaut werden. Am Schluss der Handlung sind die Kisten mit den vielen Millionen Rubel endlich eingetroffen, doch beim Öffnen entspringt zur Enttäuschung aller nur der Schwindler Pollak.
Walter Lingenhöle, Lehrer, Buchhändler, Antiquar und langjähriger Förderer der Bregenzer Festspiele analysierte in einer Rundfunksendung 1965 das Talent Hannes Grabhers: „Die Wirkung des Stückes beruht sowohl auf Wort- als auch auf Situationskomik. Beides meistert Grabher mit einer Routine, die tiefe psychologische Einfühlung verrät. Der Dialog ist meist flüssig, oft vehement und burschikos, man erwartet und liebt die Derbheit der Prosa, ihre Direktheit.“ Den Wortwitz von Grabher in seinem vollen Umfang zu verstehen bleibt wohl eingefleischten Rheindörflern vorbehalten, da seine Werke in ausgeprägter Mundart geschrieben sind, was das Lesen für nicht Eingeborene erheblich erschwert. Walter Lingenhöle bezeichnete seinen Freund Hannes daher „als den Humoristen jenes Vorarlbergerischen Erdteils, der sich Lustenau nennt“. 
Ein bisher letztes Mal eine große Bühne fand das „Kremmel-Erb“ 1987 in einer Aufführung der „Luschnouar Bühne“ als das Stück von Hannes Grabher, unter der Regie von Rudi Kurzemann, im Lustenauer Reichshofsaal mit großem Erfolg gezeigt wurde. Schon vor der Premiere waren sämtliche Vorführungen ausverkauft und es mussten kurzfristig weitere Termine eingeschoben werden. Auch Ingrid Hofer, bekannt geworden durch ihre Kinderbücher rund um Teddy Eddy, damals als Mitglied einer Kinder-Tanzgruppe erstmals auf der Bühne, blieb die Aufführung rund um das legendäre Erbe als Höhepunkt in der Geschichte der bis heute aktiven Laienschauspielgruppe in bester Erinnerung.

© Foto: Vorarlberger Landesbibliothek

 

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