Flint lebt trotzdem
Im Vorarlberger Jungbürgerbuch von 1968 wird ein idealisiertes Bild junger Menschen gezeichnet, die sich dem Vorbild der Erwachsenen folgend traditionellen Musikkapellen, Schützenvereinen oder etwa dem Schachklub anschließen. Der Alpenverein und die Naturfreunde werden als Alternativen für Jugendliche genannt, „die in Beatles, Schlurfs und Gammlern ihre Idole sehen“.
In dieses Vorarlberg kehrte 1967 der junge Grafiker Reinhold Luger nach sechs Jahren Studium in Innsbruck und Wien zurück. Und wie er sich erinnert, fand er das Land fast genauso vor, wie er es verlassen hatte. Vor 20 Jahren fasste er in einer unveröffentlichten Chronik die Geschehnisse zusammen, die ihn zu einer zentralen Figur der 68er-Bewegung in Vorarlberg werden ließen: „Die heimischen Unternehmen schnurrten erfolgreich vor sich hin, die Beamten, Angestellten und Arbeiter waren an den Wochenenden mit dem Bau ihrer Einfamilienhäuser emsig beschäftigt, …, die Bedingungen für eine berufliche Laufbahn und privates Glück waren festgelegt. Dennoch fand ich eine Gruppe kritischer Geister, die den Protest gegen den Vietnamkrieg, …, die Ausbeutung der 3.-Welt-Länder durch die Industrienationen mitverfolgt hatten“. Nachdem die studentischen Proteste in Paris, Berlin, Berkeley und vielen anderen Städten 1968 ihren Höhepunkt erreicht hatten, „begann sich auch in Vorarlberg die Unzufriedenheit mit den alten Strukturen in Politik und Gesellschaft zu regen und die Notwendigkeit von Veränderung und Erneuerung wurde artikuliert … Gleichzeitig hatte sich in den Sechzigern eine neue Form der Jugendkultur entwickelt und verbreitet. Die Beatles, Rolling Stones, Jimmy Hendrix, die Hippies und das Auftauchen von Drogen hatten die Gewohnheiten und die äußere Erscheinung von immer mehr Jugendlichen in Vorarlberg zum Schrecken der Öffentlichkeit verändert. Dies und die antiautoritäre Haltung, die Verweigerung alter und die Suche nach neuen Lebensformen, die Ablehnung tradierter und die Formulierung neuer Lebensziele in einer veränderten Gesellschaft jagten vor allem Eltern und Erziehern großen Schrecken ein. Politische Parteien, die Kirche und ihre Jugendorganisationen hatten größte Mühe mit der plötzlichen Rebellion und Andersartigkeit dieser Jugend.“
Reinhold „Nolde“ Luger (Jahrgang 1941), eine der markantesten Persönlichkeiten der damaligen Bewegung, wuchs in Dornbirn als Sohn eines Volksschullehrers in einer streng konservativen Umgebung auf. In Wien kam er dann in Kontakt mit der dortigen Studentenbewegung und fand bei seiner Rückkehr nach Vorarlberg Mitstreiter wie den Entwicklungshelfer Peter Kuthan (Studium in Linz), den späteren Rechtsanwalt Günther Hagen (Studium in Paris), den Musiker Günther Sohm oder den Autor Michael Köhlmeier (Studium in Marburg). Zum engeren Kreis gehörten auch die bereits Verstorbenen Hartwig Rusch („Amnesty International“) und Helmut Pecoraro (später Lehrer und Kulturstadtrat in Bludenz). Mit Peter Kuthan, der sich in den späten 1960er-Jahren in den USA und in Mexiko aufgehalten hatte, war die Idee gereift, ein Festival à la Woodstock in Vorarlberg zu organisieren. Reinhold Luger erzählt im Gespräch, dass diese Gruppe von jungen Männern – seiner Meinung nach war die Zeit damals noch nicht reif, dass Frauen eine führende Position in der Bewegung hätten einnehmen wollen – sich neben ihrer Geisteshaltung auch über das Aussehen, besonders die langen Haare, von der Masse der Angepassten distanzierten.
Aus persönlicher Sicht war es für Luger zunächst wegen seines Aussehens und der zu Unrecht vermuteten Nähe zu Drogen nicht einfach, als Grafiker Fuß zu fassen. Nachdem aber sogar die Hypobank sein außergewöhnliches Talent erkannt hatte, gelang ihm der Durchbruch 1983, als ihn Alfred Wopmann zum Grafiker der Bregenzer Festspielplakate machte – und er dies auch 20 Jahre lang blieb. Aus seiner Feder stammt auch das Design der Vorarlberger Stadt- und Landbusflotte.
Gesellschaftlich gesehen ist er davon überzeugt, dass die völlig gewaltfreie Vorarlberger 68er-Bewegung die kulturelle Entwicklung des Landes nachhaltig in positivem Sinne beeinflusst hat. Obwohl der Verein „Offenes Haus“ in Dornbirn das Vereinsziel, nämlich ein Jugend- und Kommunikationszentrum zu gründen, nicht erreichte, war er doch an der Organisation der Randspiele beteiligt, die internationale Größen der Musikszene nach Vorarlberg holten und auch vernachlässigten heimischen Künstlern ein Podium schufen. Die „Wäldertage“, die Etablierung des „Spielbodens“, aber auch die Gründung von feministischen Gruppen waren Zeichen einer gesellschaftlichen Öffnung Vorarlbergs.
Pop- und Rockfestival Flint
Sichtbarster Ausdruck der neuen Jugendkultur war das Pop- und Rockfestival Flint in Koblach, das 1970 stattfand und dessen Nachfolger 1971 von den Behörden verhindert wurde. Aus den Erinnerungen damaliger Teilnehmer und Organisatoren lässt sich ein Bild der damaligen Ereignisse zeichnen:
An das Vorbild Woodstock 1969 angelehnt, sollte auch in Vorarlberg ein Pop- und Rockfestival abgehalten werden. Zum Kern des Organisationsteams gehörten Reinhold Luger und Günther Hagen aus Dornbirn, die dafür verantwortlich waren, dass bei allem Idealismus eine straffe Organisation hinter dem Vorhaben stand und auch die Behörden miteinbezogen wurden. Der Festivalname „Flint“ steht für Kieselstein, Feuerstein, der die Funken sprühen lässt, ein Feuer entfacht und einen Stein ins Rollen bringt. Die Veranstaltung vom 4. bis 5. Juli 1970 wurde zu einem großen Erfolg: Über 1000 Jugendliche waren auf das Areal rund um die Neuburg in Koblach gepilgert und lauschten der Musik von „The Gamblers“, „Wanted“ (mit Reinhold Bilgeri) oder Michael Köhlmeier, der damals noch als Sänger auftrat. Augenzeugen berichten, dass die Veranstaltung in geordneten Bahnen abgelaufen sei und die befürchteten Schlägereien oder Drogenexzesse völlig ausgeblieben waren. Es wurde sogar beklagt, dass es mit der vorgetragenen Lyrik und den Protestsongs nicht gelungen sei, das passive Konsumverhalten des Publikums zu überwinden. Die Organisatoren beschlossen daher bei weiteren Festivals das Programm zu kürzen, gleichzeitig aber auch zu intensivieren.
So sollte dann vom 9. bis 11. Juli 1971 ein weiteres Flint-Festival auf der Neuburg in Koblach stattfinden. Geplant waren Auftritte von zwölf Bands, Liedermachern, Lyrikern sowie die Vorführung von Filmen. Vermehrt sollte Platz geboten werden für Gespräche, Statements und Kritik über oder an der Musik, den Texten oder der Veranstaltung als solcher. Die Euphorie der Organisatoren blieb allerdings unbelohnt, da das Festival letztendlich abgesagt werden musste. Denn am 3. Juli, also zehn Tage vor dem geplanten Beginn von Flint II, langte ein Schreiben der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch bei den Organisatoren ein, in dem ihnen mitgeteilt wurde, dass der Burghügel rund um die Neuburg unter Naturschutz gestellt werde und daher Veranstaltungen mit größeren Menschenansammlungen nicht mehr abgehalten werden dürfen. In einem späteren Flugblatt wurde allerdings vermutet, dass „gewisse Kreise“ Angst vor einer denkenden und sich zusammenschließenden Jugend bekommen hätten. Und die sozialdemokratische Wiener Arbeiterzeitung kommentierte damals: „Naturschutztrick brachte Pop-Festival um. Neuester Schildbürgerstreich der Vorarlberger Landesväter richtet sich gegen progressive Jugendliche …“.
Die frustrierten Organisatoren wollten die Absage nicht widerstandslos hinnehmen und zelebrierten das Ende von Flint in Form einer Beerdigung. Diese fand in der Nähe der Neuburg auf der Schottertrasse der sich damals gerade in Bau befindlichen Rheintalautobahn statt. 500 Jugendliche hatten sich eingefunden, um Flint symbolisch mit Sarg, Kreuz und drei Kränzen zu Grabe zu tragen. Dabei wurde eine Litanei – eigentlich war es ein Spottgedicht auf die Geisteshaltung der Vorarlberger Landesregierung – verlesen, bei der nach jeder Verkündigung des Ansagers ein kollektives „Bitt für uns“ folgte.
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