
„Wie Lügen und Hass zu Kriegen führen“
Sprachphilosoph und Politologe Paul Sailer-Wlasits (58) zeigt in seinem aktuellen Traktat, wie Lüge und Hass über Jahrtausende hinweg zu Kriegen führten. Im Interview zitiert der Wiener den griechischen Philosophen Demokrit („Das Wort ist der Schatten der Tat“) – und sagt: „An der Ukraine-Invasion wird deutlich, dass der Zivilisationsprozess noch lange nicht an sein Ende gelangt ist.“
Herr Sailer-Wlasits, Sie widmen sich in Ihrem Traktat der Geschichte eines Paktes, der alle Zeiten durchschritten hat: Der Trias von Lüge, Hass und Krieg …
Hassreden und Lügen sind Jahrtausend-Phänomene. Sie wirkten immer schon wie sprachliche Brandbeschleuniger. Denn sie destabilisieren die menschliche Kommunikation. Meine These ist, dass Hassreden und Lügen zwar nicht immer und auf direktem Weg zu kriegerischer Gewalt führten, dass aber an allen Kriegen Lügen und Hass, gewissermaßen als verbale Mittäter, beteiligt waren. Lügen, Hass und Krieg durchwanderten – als Feinde des Humanismus in verschiedensten Gestalten und Maskierungen – sämtliche Epochen der Menschheitsgeschichte.
Sie schreiben: „Nahezu alle Angriffskriege und Invasionen der Weltgeschichte haben mit politischen Lügen begonnen.“ Sehen wir das heute an der Ukraine?
Das Verhängnisvolle und Alarmierende ist, dass sich diese fatale Entwicklung mit geradezu ikonischer Haltbarkeit bis in die Gegenwart fortgesetzt hat. Das Zusammenwirken von Lügen und Hasssprache, von Machtpolitik und Expansionsdrang führt zwangsläufig zu Gewalt; von innerstaatlichen Konflikten bis hin zu nach außen gerichteten Angriffskriegen. An der Ukraine-Invasion wird deutlich, dass der Zivilisationsprozess noch lange nicht an sein Ende gelangt ist.
Kehren wir zu den Anfängen dieser unheiligen Trias und damit an den Anfang Ihres Traktats zurück? Wann begannen Lüge und Hass zu Kriegen zu führen?
Gewaltvolle Auseinandersetzungen sind so alt wie die Geschichte der Menschen. Aber erst im Laufe des ersten vorchristlichen Jahrtausends wurden die „erweiterten Zweikämpfe“, wie der Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz diese bezeichnete, allmählich Kriege genannt. Kämpfe, Schlachten, Feldzüge und Belagerungen, bei allen diesen Formen gewaltvoller Auseinandersetzungen, lagen weder in der Antike noch heute die jeweiligen Feindbilder einfach nur vor. Ganz im Gegenteil, diese wurden verbal und zumeist über einen langen Zeitraum hinweg konstruiert.
Verbal konstruiert? Sie zitieren Tacitus, der von „blutdürstiger Beredsamkeit“ gesprochen hatte und davon, dass „Worte als Angriffswaffen“ missbraucht würden …
Als sich das Römische Reich zur führenden Weltmacht der Antike erhob, setzte man dort sehr stark auf die politische Wirkung der Rhetorik. Die griechische Kunst und Wissenschaft vom guten und wahrhaftigen Reden wich dem machtpolitischen Zweck der Rede. Cicero beispielsweise war mit der griechischen Rhetorik genauestens vertraut und vertrat dennoch die Ansicht, dass das übergeordnete Ziel der Rede nicht die Wahrheit, sondern der beim Zuhörer erweckte Eindruck von Wahrheit sei. Viele Führungspersonen im antiken Rom dachten und handelten ebenso. Allmählich entstand durch diesen wirkungspsychologischen Missbrauch von Rhetorik ein kulturelles Klima der Wahrheitsferne. Der Weg von der Sprachgewalt zur Gewalt durch Sprache begann.
Und dann taucht der Ausdruck des „gerechten und Heiligen Krieges“ auf …
Gerechte und Heilige Kriege wurden weit über ein Jahrtausend hindurch diskutiert. Von den Stoikern über Augustinus bis zu Thomas von Aquin. Die Bezeichnungen und deren Bedeutungen spielten Hauptrollen: Was ist ein „gerechter“ Krieg? Die Bedeutung ist weit gespannt: von rechtmäßig über zulässig und angemessen bis hin zu richtig und gerechtfertigt, etwa Verteidigungskriege. Die „gerechten Kriege“ wurden aber auch immer wieder rhetorisch umfunktioniert, um Angriffskriegen den Anschein von Berechtigung zu geben. Die sogenannten „Heiligen Kriege“ folgten hingegen einer ganz anderen Vorgabe. Bei diesen sollte eine gedachte, vorgestellte „göttliche Ordnung“ wiederhergestellt werden. Also der Kampf im Namen und Geiste eines als heilig Definierten.
In den Kreuzzügen vereint sich schließlich die Trias von Lügen, Hass und Krieg …
Genau, wobei die Aufrufe zu den Kreuzzügen dem Muster des „Heiligen Krieges“ folgten. Nicht irdische Befehlshaber entschieden und trugen die Verantwortung, sondern sie delegierten diese an einen vorgestellten Willen Gottes. Sie waren nur Ausführende. So etwa Papst Urban II. bei seinem Aufruf zum ersten der großen Kreuzzüge im Jahr 1095. Zwecks Befreiung des Heiligen Landes vermischte er rhetorisch das irdische und biblische Jerusalem miteinander und unterlegte es geschickt mit machtpolitischen Zielen, indem er verkündete: „... nicht ich, sondern der Herr bittet und fordert Euch auf, ... den widerwertigen Menschenschlag aus den von Christen bewohnten Gebieten zu jagen ...“
In Ihrem Traktat heißt es, im 15. Jahrhundert sei „die Kriegsbegeisterung im Zeichen des Kreuzes“ neu erwacht. Inwiefern?
Die sogenannte Entdeckung der Neuen Welt, das heißt, die gewaltvolle Expansion der europäischen Seemächte, trug zwar ein neues Gewand, hatte eine andere geografische Stoßrichtung und gebrauchte andere Vorwände. Doch die Conquista bestand trotz ihres humanistischen Kleides in ihrem Kern aus giergetriebener, rassistischer Unterwerfung und Ausbeutung fremder Kulturen. Die Exzesse von Sklaverei und Menschenhandel bis hin zu Massenmorden machten den Kolonialismus zu einem der brutalsten Teile unserer Globalgeschichte.
Sprechen wir auch über Machiavelli? Und dessen Einfluss?
Etwa zur gleichen Zeit als in Mittel- und Südamerika die christlichen Eroberer wüteten, beschrieb Machiavelli in Florenz die Abgründe der Politik seiner Epoche. Er sah sich mit einem politisch zerklüfteten und machtpolitisch zerteilten Italien konfrontiert. Mit Jahrzehnten dreister politischer Lügen, schwerster Intrigen und perfider Machtkämpfe zwischen den Fürstentümern. Er folgerte daraus, dass moralische Haltung und Überzeugung nur im Privaten von Bedeutung seien. In der Politik hätten diese dagegen keine oder nur untergeordnete Bedeutung. Bündnisse und Verträge könnten jederzeit aus Nützlichkeitsgründen gebrochen werden.
Und die Lügen, der Hass im Rahmen der Französischen Revolution?
Nun, trotz der bis dahin entworfenen Gesellschaftsverträge, auf denen ja unsere Demokratien, insbesondere die Gewaltenteilung beruhen, waren die ersten Jahre der Französischen Revolution weit von diesen entfernt. Es herrschte eine Art radikal-republikanischer Totalitarismus. Von Robespierre etabliert und gnadenlos umgesetzt. Ausgerechnet der sogenannte „Wohlfahrtsausschuss“ wurde zum Zentrum der neuen Macht. Mit immer mehr Sondervollmachten ausgestattet, mutierte er vom Hoffnungsträger zum Terrorregime mit systematischer Verfolgung in der Dimension „politischer Säuberungswellen“ und mit tausenden Hinrichtungen.
Lassen Sie uns sozusagen über die Zeiten springen, hin zum Nationalsozialismus. Sie sprechen da von einer Sonderdeformation der Sprache, die den Verbalradikalismus gespaltet habe …
Die Totalitarismen des Zwanzigsten Jahrhunderts übten nicht nur enormen politischen Druck aus, sondern griffen auch massiv in die Sprache der Menschen ein. Erhebliche Bedeutungsveränderungen zahlreicher Wörter wurden vorgenommen. Die sprachliche Spaltung erfolgte im Nationalsozialismus zum einen in eine laute, brüllende Variante der Polit-Propaganda und fanatischen Hetzreden. Zum anderen schlich sich der Verbalradikalismus in einer leisen, perfiden Variante in die Alltagssprache von Millionen ein. In Form tausender umcodierter Wörter wurde die Sprache des Alltags durchsetzt, nahezu subkutan. Die nationalsozialistische Hasssprache bestand nicht nur aus verbalen Entgleisungen, wie man sie bis dahin kannte. Die Verseuchung und Vergiftung der Sprache betraf sämtliche Ebenen des gesellschaftlichen Diskurses. Wie eine Folie lag die rassistische und ins Monumentale gesteigerte Ausdrucksweise hinter der Sprache. Der geradezu religiöse Führerkult samt Massenkundgebungen brachte abseits der NSDAP aber auch eine weitere Gruppe an Sprachtätern hervor. Eine riesige Masse an politisch Nicht-Exponierten, an bagatellisierenden Gleichgültigen und opportunistisch-angepassten Mitläufern. Neben dem lauten NS-Diskursstrang formierte sich dadurch auch jener sprachliche Ungeist, dessen Restbestände sogar noch im 21. Jahrhundert zu vernehmen sind.
Restbestände? Beispielsweise?
Längst überwunden geglaubte Termini wie beispielsweise „Überfremdung“ oder „Überflutung durch Migration“. Auch historisch belastete Bezeichnungen aus dem „völkischen“ Umfeld wie „Lügenpresse“ waren in den vergangenen Jahren in Wahlkämpfen zu hören. Auch „wir sind das Volk“ und andere verbalradikale Nationalismen und rassistische Narrative. Hierzulande gab es immer wieder sogenannte „Einzelfälle“ und „ungewollte antisemitische Versprecher“ diverser politischer Funktionäre. Auch mit scheinbar positiven Wendungen wie die „Fleißigen und Ehrlichen“ wurde und wird sprachlich Ausschließung betrieben.
Sie sagen: Im Nationalsozialismus, auch im Stalinismus, sei die Komplexität der Welt zu Phrasen reduziert und damit massentauglich gemacht worden.
Totalitäre Sprache richtet sich mit ihrer ritualisierten Rhetorik an die Masse. Man kennt die Bilder des persuasiven Vorsprechens, etwa der NS-Parteiführer, und die rhetorisch gelenkten Antworten der Masse, die sich zu einem narkotischen Begeisterungstaumel steigerten. Das ist mehr als nur politische Selbstdarstellung. Dazu ist eine bildhafte, pathetisch-suggestive Wortwahl vonnöten. Kondensierte Sprache mit deklarativen Phrasen, die hohe soziale Verbindlichkeit besitzen. Unmissverständliche Appelle, die durch politisch-emotive Schlagwörter transportiert werden.
Diese Feststellung trifft auch auf die heutige Zeit zu …
Leider ja, das ist das Wesen des Populismus. Dieser ist ja keine Ideologie und auch kein Inhalt, sondern eine Methode der politischen Praxis. Der rhetorische Effekt dominiert die populistische Debatte, nicht der Wahrheitsgehalt.
Um bei Ihren Worten zu bleiben: Lügen, Hass und Krieg werden also weiterhin als Feinde des Humanismus die Zeiten durchschreiten?
Das ist zu befürchten, denn die jahrtausendealte todbringende Verbindung scheint noch nicht an ihr Ende gelangt zu sein. Von Demokrit stammt die Sentenz: „Das Wort ist der Schatten der Tat.“ Dieser Gedanke mahnt über die Zeiten hinweg an, wie schrecklich kurz die Sprachwege von Lügen und Hassreden hin zu kriegerischer Gewalt sein können.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person
Paul Sailer-Wlasits * 1964 in Wien, ist Sprachphilosoph, Politikwissenschafter und Autor von „Lüge, Hass, Krieg. Traktat zur Diskursgeschichte eines Paktes“ (2022), „Verbalradikalismus“ (2. Aufl., 2021) und „Uneigentlichkeit“ (2020).
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Paul Sailer-Wlasits
„Lüge, Hass, Krieg – Traktat zur Diskursgeschichte eines Paktes“
Königshausen & Neumann, Würzburg, 2022
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