
Saftkugler sind keine Asseln
Als ich vor langer Zeit zum Team der Vorarlberger Naturschau stieß, versuchte mir der Biologe des Hauses, Herbert Waldegger, den Unterschied zwischen Asseln und Saftkuglern näherzubringen. Ich hörte nur halb zu, schließlich hatte ich noch nie einen Saftkugler bewusst wahrgenommen. Und als Vertreter der Tierwelt gehören beide Gruppen ohnehin nicht in die Interessenssphäre eines Erdwissenschaftlers. Aber irgendetwas muss im Hirn hängengeblieben sein, denn als ich vor wenigen Jahren meinen ersten Saftkugler entdeckte, war mir auch ohne langes Nachschlagen klar, was ich da vor mir hatte. Damit aber ist es mir nur zu verständlich, dass sich die meisten von Ihnen unter Saftkuglern rein gar nichts vorstellen können.
Will man Gemeinsamkeiten zwischen Asseln und Saftkuglern suchen, so finden wir sie in der höheren Systematik. Beide gehören zum Stamm der Gliederfüßer, der rund 80 Prozent aller bekannten heute lebenden Tierarten umfasst – unter ihnen so geläufige wie die Spinnentiere oder die Insekten. Doch damit sind die Gemeinsamkeiten bereits abgehandelt. Die landlebenden Asseln gehören – erstaunlich genug – zu den Krebstieren, während die Saftkugler, wissenschaftlich Glomerida genannt, eine Untergruppe der Tausendfüßer darstellen. Ihre auffallendste (und namensgebende) Eigenschaft ist die Fähigkeit, sich bei Gefahr, aber auch als Schutz vor Austrocknung zu einer Kugel zusammenzurollen. In diesem Zustand ist der Kopf des Tieres – anders als bei den Asseln – vollständig verdeckt. Gleiches gilt für die Beine und die leichter verletzbare Bauchseite. Und es bleibt kein Spalt, den ein Angreifer zum Aufbrechen oder Aufhebeln der Kugel nutzen könnte. All dies funktioniert nur bei einem kurzen und breiten Körper, dessen Einzelteile in ihrer Lage zueinander verschoben werden können. Die geringe Anzahl von nur elf bis zwölf ringartigen Segmenten begünstigt diese Fähigkeit. Bogenförmige Rückenplatten bilden die äußere Hülle der Schutzkugel. Innen beziehungsweise bauchseitig vervollständigen je vier elastisch miteinander verbundene Platten den Körperring. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zu den Asseln ist die Zahl der Beine. Weisen Rollasseln generell nur sieben Beinpaare auf, so zählen wir bei den Saftkuglern 17 bis 19 Beinpaare. Um den Schutz zu vervollständigen, können Glomerida aus acht Drüsenpaaren zwischen den Segmenten durchsichtige Tropfen eines bitteren, klebrigen Wehrsekrets abscheiden. Mit ihm werden größere Fressfeinde abgeschreckt, die nun gar nicht mehr auf die Idee kommen, die stinkende Kugel zerbeißen zu wollen. Kleinere Feinde wie Spinnen, Ameisen oder Laufkäfer hingegen werden vom Wehrsekret betäubt oder gar gelähmt. Von diesen „Saft“-Tropfen leitet sich der zweite Teil des Populärnamens her.
Die Glomerida sind eine artenarme Gruppe. Lediglich 15 Arten sind – nach heutigem Verständnis – in Mitteleuropa zu finden. Schlägt man aber in älteren Lehrbüchern nach, so wird man auf andere Zahlen stoßen. Denn die Arten sind äußerst variabel, und bereits kleinste Abweichungen in der Färbung wurden einst zum Anlass genommen, gleich eine neue Art (oder zumindest eine neue Unterart) zu definieren. Erst durch genaue Beobachtungen des Fortpflanzungsverhaltens und die statistische Auswertung von Färbungsvarianten des Nachwuchses konnte dem Namenswirrwarr ein Ende gesetzt werden. Denn wie überall in der Biologie gilt auch hier: Alle Tiere, die – unabhängig von ihrem vordergründigen Erscheinungsbild – miteinander fruchtbare Nachkommen zeugen können, gehören zu ein und derselben Art. In jüngster Zeit bietet der „genetische Fingerabdruck“ ein weiteres Hilfsmittel, um die Zusammengehörigkeit innerhalb der Fortpflanzungsgemeinschaft objektiv abzusichern.
Wie viele dieser 15 Arten nun auch in Vorarlberg vorkommen, bietet weiterhin Anlass für Forschung. Zum einen entziehen sie sich der Beobachtung. Denn der größte Feind der Saftkugler ist die Austrocknung. Um ihr zu entgehen, verstecken sich die Tiere tagsüber unter der Erde oder in der Bodenstreu unter welkem Laub und abgestorbenem Pflanzenwerk. Erst bei Nacht, wenn zudem die Witterung nicht allzu trocken ist, lassen sie sich blicken, zu Zeiten, wo kaum jemand nach ihnen Ausschau hält. Hat man sie aber einmal entdeckt, so schreckt die variable Musterung vor Bestimmungsversuchen ab – zu Unrecht, denn Form und Farbgebung des hintersten, halbkreisförmigen Rückenschilds liefern – zumindest bei den größeren Vertretern – gute Hinweise für eine erfolgreiche Bestimmung. Die kleineren Arten wiederum müssen aus der Bodenstreu gesiebt werden, eine Arbeit, die in jüngerer Zeit niemand auf sich nehmen wollte. Lediglich eine Dissertation aus dem Jahr 1951 über alle Tausendfüßer Vorarlbergs berücksichtigte auch die Saftkugler. Doch die verwirrende Vielzahl an veralteten Namen macht es schwierig nachzuvollziehen, was der Bearbeiter damals wirklich gefunden hat. So verzeichnet die Dissertation Arten, die heute in Deutschland erst mehrere 100 Kilometer von Vorarlberg entfernt angetroffen werden. Die Frage, ob diese Arten in den letzten Jahrzehnten aus dem Ländle verschwunden sind, ob sie damals lediglich falsch bestimmt wurden, oder ob der Mangel an Beobachtern eine Verbreitungslücke vortäuscht, lässt sich kaum beantworten. Somit verzeichnet die Datenbank der inatura für Vorarlberg derzeit nur vier durch aktuelle Funde sicher dokumentierte Arten, sowie eine weitere für Liechtenstein. Auch die Zahl der Fundorte der theoretisch weit verbreiteten Tiere hält sich in Grenzen. Jede neue, durch gutes Bildmaterial abgesicherte Beobachtung hilft, unsere Kenntnis über die Verbreitung dieser faszinierenden Tiere im Lande zu erweitern.
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