Thomas D. Trummer

Das Ausreizen des Möglichen

März 2025

Für Adorno war Denken keine Anleitung zum Handeln. Handlungsanweisungen schienen ihm ein Verrat an der Komplexität von Erkenntnis. Moralische Erwägungen hielt er für unbedingt nötig, doch selbst redliche Überlegungen waren von Beginn an infiltriert von gesellschaftlichen Zwängen, kontaminiert vom Unaussprechlichen. Kommt Ihnen dieser Verdacht nicht bekannt vor? Ist es nicht gerade deshalb an der Zeit, Adorno wieder ins Gedächtnis zu rufen? Sein bitterer Satz „Nichts wird wieder gut“ klingt heute wie ein Menetekel – aber vielleicht ist er mehr als das.
Der Frankfurter Philosoph, dieser Unruheherd im konservativen Zwirn, war eine widersprüchliche Figur: autoritär, schrullig, getrieben von Unzufriedenheit. Die freie Liebe der 68er setzte ihm zu, ebenso ihr revolutionärer Gestus, den er als oberflächlich und unbedacht empfand. Adornos Denken war akademisch, rezitiert vom Katheder, getragen von dem Anspruch, zu wissen, was gut, böse und geschmackvoll sei. In Interviews war er umständlich, in Vorlesungen neigte er zu ausufernden Gedankenketten, die manchmal in fragwürdigen Urteilen mündeten – etwa in seinem berüchtigten Angriff auf den Jazz.
Und doch: Bei aller Strenge, bei aller Skepsis, bleibt Adorno ein Mahner, dessen Stimme wir wahrnehmen sollten. Seine Warnungen waren ebenso unerbittlich wie sein Misstrauen gegen jede Form der Verklärung berechtigt. Für ihn war die Wirklichkeit selbst eine Täuschung, die Hoffnung nur in ihren Rissen zu erahnen. Sogar das Mögliche war für Adorno nicht frei von Schuld. Denn schon im Möglichen bekundet sich das Delikt. 
Sein Denken war tief in der Geschichte verankert. Er sah die Welt nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs: die Trümmer, die kollektiven Traumata, die allmähliche Verdrängung der Schuld. Geschichte war für ihn kein Fortschreiten, sondern ein endloser Rückzug der Wahrheit. Authentisches Erleben erschien ihm als Blendwerk – unsere Empfindungen immer schon verfälscht, manipuliert, durchtränkt von falschen Idealen. Hoffnung, wenn es sie überhaupt geben konnte, lag nur in der Negation – einer Negativität nicht als Zerstörung, sondern als radikale Infragestellung.
Eine Zeit lang waren seine Gedanken intellektuelles Fundament, Pflichtlektüre in soziologischen Seminaren, Kanon der Debatten der 1970er Jahre. Heute scheinen sie unter den Schlagzeilen und Bullshit-Strategien der Politik und den digitalen Trugbildern unserer Zeit verschüttet. Doch wäre es nicht gerade jetzt an der Zeit, seine »Minima Moralia« wieder aufzuschlagen – einen Text, der sich der Übermacht des Zeitgeistes widersetzt? Ist nicht auch unsere Gegenwart geprägt von falschem Bewusstsein? Leben wir nicht in der Illusion von Freiheit, während unsere Entscheidungen längst von unsichtbaren Mechanismen gelenkt werden – von wirtschaftlichen Zwängen, von Algorithmen, die unser Wollen besser kennen als wir selbst?
Doch wenn Adornos Skepsis heute noch Bedeutung hat, dann nicht als bloße Warnung vor der Vergangenheit. Vielmehr braucht es einen Blick, der die Zukunft mit gleicher Schärfe betrachtet. Ultrarechte Parteien haben längst begonnen, die Parolen der Tech-Konzerne zu übernehmen. Freiheit – einst eines der Ideale der Aufklärung – hat sich verabsolutiert und die Vorstellungen von Gleichheit und Solidarität verdrängt. Was bleibt ohne „Egalité“ und „Fraternité“ ist eine Freiheit ohne Verantwortung.
Paul Klees »Angelus Novus«, von dem Walter Benjamin schrieb, zeigt einen Engel mit aufgespannten Flügeln, der von einem Sturm aus der Vergangenheit in die Zukunft getrieben wird. Adorno verstand sein Denken in ähnlichem Sinne als Kritik an dieser Geschichte, an der Aufklärung und ihren Schattenseiten. Doch der Sturm der Gegenwart weht aus einer anderen Richtung: Er kommt nicht nur aus der Vergangenheit, sondern auch aus der Zukunft – in Form eines technologisch getriebenen Unternehmertums, das sich alter moralischer Fragen zunehmend entledigt.
Adorno schrieb einst, dass es unmöglich sei, moralisch integer zu leben. Doch in einer Zeit, in der Moral nicht nur schwierig, sondern oft gleichgültig abgelehnt wird, bekommt diese Diagnose eine neue Dringlichkeit. Tech-Oligarchen und ultraliberale Denker haben mit der Bürokratie auch Institutionen zum Feind erklärt – jene Institutionen, die Adorno einst als Instrumente der Repression kritisierte. Doch paradoxerweise sind es genau diese Strukturen, die heute noch ein Gegengewicht gegen den Zerfall demokratischer und sozialer Werte bilden könnten.
Adornos Skepsis gegenüber der Kulturindustrie, die in den »Minima Moralia« essayistisch verarbeitet wird, würde sich heute wohl auf digitale Plattformen und soziale Netzwerke richten. Sie suggerieren Nähe und Authentizität, während sie jede Interaktion ökonomisieren. Die neue Macht liegt nicht mehr im materiellen Besitz, sondern in der Kontrolle über Daten und Aufmerksamkeit. Plattformen, die kostenlos sind, lassen uns vergessen, dass wir selbst längst zur Ware geworden sind. Vielleicht müsste Adornos materialistische Kritik um eine Theorie des Immateriellen erweitert werden – um ein Verständnis der digitalen Ökonomie, in der nicht mehr Dinge, sondern Informationen den höchsten Wert haben.
In Gestalt von Musk und Co. findet sich kein Ansatz von Entgegenkommen, nicht einmal falsche Freundlichkeit – nur die Verspottung jener, die es nicht so weit gebracht haben. Dabei ist interessant, dass das radikal Libertäre von der Kunst die Vorstellung des Genies übernimmt: Das Genie gibt sich selbst die Regel. Doch was im künstlerischen Werk ästhetisch wird, wird in den Tech-Konzernen ökonomisch und politisch. Der Regelverstoß ist nicht mehr Ausnahme, sondern Prinzip. Es geht nicht mehr nur darum, das Bestehende zu nutzen, sondern um das Ausreizen des Möglichen.
Adorno hielt schon in den 1960ern entgegen, dass das Mögliche bereits ein Delikt sei. Dieser Gedanke hat nichts von seiner Dringlichkeit verloren – vor allem, weil das Mögliche mittlerweile das Maschinelle geworden ist. Deshalb wird seine Frage mit jedem Tag brisanter: Gibt es überhaupt noch einen Ort, von dem aus Kritik an diesem „falschen Leben“ möglich ist?

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