Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Industry 4.0 – Wird die Arbeit überflüssig?

November 2015

In den kommenden ein, zwei Jahrzehnten werden knapp die Hälfte der Arbeitsplätze, die die amerikanische Wirtschaft derzeit aufweist, durch Einsatz von schon heute verfügbarer Computerleistung unnötig. Das Zeitalter Industry 4.0 sei angebrochen. Nicht nur Verlagerungen an Standorte mit geringeren Produktionskosten würden die Arbeit in den hochentwickelten Industrieländern bedrohen, sondern enorme Potenziale neuer Computer-Technologien. Das ist nicht Science-Fiction, sondern Ergebnis ernst zu nehmender Analysen. Die Menschen könnten den Wettlauf gegen die Maschine verlieren. Solche Prognosen alarmieren und verunsichern Unternehmer, Politik, die EU-Kommission und die „Davos People“.

Schon immer haben technische Innovationen gegensätzliche Reaktionen ausgelöst: einerseits Aussichten auf Erleichterungen der Arbeit, auf Wohlstand und Komfort, auf neue Möglichkeiten und Produkte, auf Gesundheit und Sicherheit, andererseits aber auch Ängste vor neuen, unbekannten Gefahren, vor Veränderungen gewohnter Verhältnisse und vor technologischer Arbeitslosigkeit.

Dass fortgeschrittene Computertechnik heute schon und in naher Zukunft für eine neue Epoche der Industrialisierung stehen wird, belegen Bezeichnungen wie „der sechste Kondratieff-Zyklus“, der gerade anlaufe, oder „Industry 4.0“ oder das „zweite Maschinenzeitalter“: alles Bezeichnungen, die den Anfang einer neuen Epoche signalisieren sollen. Automatisierung werde in großem Stil ersetzen, was bisher menschlicher Arbeitskraft vorbehalten schien, ähnlich wie Gutenbergs Buchdruck die Handschrift ersetzte oder die Dampfmaschine die Industrialisierung auslöste. Nikolai Kondratieffs langfristige Zyklen von der Entdeckung neuer Technologien, über beschleunigte wirtschaftliche Nutzung, allmähliche Sättigung und Verebben der Dynamik sollen nach der Dampfmaschine sich in bisher vier weiteren langen Wellen manifestiert haben: Eisenbahn und Dampfschiff, Elektrifizierung, Automobil und Kunststoffe sowie Computer und Kommunikation. Gegenwärtig durchschreite die Weltwirtschaft die Talsohle zum Beginn eines neuen Zyklus, der von kaum vorstellbaren Leistungen künstlicher Intelligenz angetrieben sein werde.

Paradox an dieser Hypothese ist, dass sich trotz der weltweiten Ausbreitung des Internets und der fast lückenlosen Benützung von persönlichen Computern seit etwa zwanzig Jahren bisher keine Beschleunigung des Wachstums oder des Produktivitätsfortschritts erkennen lässt. „Überall, wohin wir blicken, begegnet uns der Computer, nur nicht in der Wirtschaftsstatistik“, wunderte sich der Nobelpreisträger Robert Solow schon 1987. Das ist seither eher noch mysteriöser. Mögliche Erklärungen: Andere dynamische Kräfte haben zur gleichen Zeit mehr an Wirkung eingebüßt, als die neuen bringen, die neue Technologie diene weniger der Produktivität als dem Zeitvertreib und Spieltrieb, und schließlich: Die Statistik messe den Fortschritt schlicht falsch, der Maßstab Bruttoinlandsprodukt sei irreführend.

Technische Innovationen haben seit Jahrtausenden der Menschheit ohne Zweifel Fortschritt gebracht: Die Mehrzahl der Menschen lebt heute länger, gesünder und bequemer als noch vor ein paar Jahrzehnten. Nicht alle: 1930 sah John Mayn­ard Keynes, der bedeutendste Ökonom des 20. Jahrhunderts, in seiner Vorlesung über „Die wirtschaftlichen Möglichkeiten unserer Enkelkinder“ für das Jahr 2030 voraus, dass dann – also heute in fünfzehn Jahren – die erwerbstätige Generation nur noch 15 Wochenstunden aktiv arbeiten müsse, um sowohl die eigenen materiellen Bedürfnisse wie auch die der abhängigen Kinder und der älteren Menschen im Ruhestand erwirtschaften und finanzieren zu können. Seither sind wir diesem Ziel bedeutend näher gekommen, aber erreicht wird es wohl 2030 noch nicht sein: Keynes rechnete nicht mit der damals gerade einsetzenden Weltwirtschaftskrise und nicht mit dem folgenden Zweiten Weltkrieg. Und eine immerhin schon fast ein Jahrzehnt anhaltende Stagnation wie gegenwärtig war auch nicht vorgesehen.

Die charakteristische Schwäche solcher langfristiger Visionen ist, dass sie von historischen Zwischenfällen absehen. Sie können zwar die Wirkung technologischer Innovationen, die Arbeit ersparen, leidlich gut identifizieren, aber bei Weitem weniger gut, welche neuen menschlichen Aufgaben und Aktivitäten sich daraus ergeben könnten. Die Krise, die vor allem Europa derzeit durchmacht, ist nicht eine technologische Krise, sondern eine der politischen Organisation, der gesellschaftlichen Kultur und neuer Ansprüche und Rahmenbedingungen: Globalisierung und Gefährdung der Umwelt.

Die Leistung moderner Computertechnik wird künstliche Intelligenz, kognitive Fähigkeiten von vernetzten Rechnern und deren Lernfähigkeit revolutionär steigern. Die Prognosen eines anbrechenden Zeitalters des „Internet der Dinge“ sehen übrigens von ähnlich wahrscheinlichen Durchbrüchen in den Biotechnologien oder in der Nano-Technik ab. Und sie blenden gesellschaftliche Widerstände gegen revolutionäre Neuerungen aus.

Es ist nahezu unmöglich anzugeben, welche neuen Aufgaben sich infolge neuer Technologien stellen oder welche durch sie lösbar werden. Dass neue Technik immer gerade so viel Arbeit ersetzt, wie sie gleichzeitig neue schafft, ist kein Naturgesetz. In der dynamischen Konjunktur der Jahrzehnte bis zum Beginn des neuen Jahrhunderts ging es sich annähernd aus, wenn man von regionalen und sektoralen Krisen absieht.

Eine Vorfrage ist, welche Art von Fortschritt die Menschen in Zukunft für erstrebenswert und möglich halten: Vielleicht nicht mehr nur immer weiter gesteigerte Verfügbarkeit von materiellen Gütern. Vielleicht wird „Fortschritt“ mehr auf Verbesserungen der Qualität des Lebens abstellen, auf Werte wie Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung, Glück oder Zufriedenheit. Das können auch noch so leistungsfähige Computer der Zukunft nicht leisten. Vielleicht geht es nicht so sehr um künstliche Intelligenz von Maschinen, sondern um soziale Intelligenz, um Menschlichkeit?

Entscheidend wird sein, ob die Aufgaben der Zukunft erkannt und Problemlösungen dafür sich durchsetzen. Die alte Frage, ob uns durch den Einsatz neuer Technologien die Arbeit ausgehen wird, kann optimistisch beantwortet werden. Die Möglichkeiten, an der Qualität des Lebens zu arbeiten, sind im Prinzip unbegrenzt. Die Wirtschaftswissenschaft definiert Arbeit als die Fähigkeit, Probleme zu lösen und daraus Einkommen zu erwirtschaften. Das bedeutet: Wir werden so lange Arbeit haben, wie wir Probleme erkennen und lösen können – und uns die Probleme nicht ausgehen. Danach sieht es derzeit wahrlich nicht aus.

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