Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Man gewöhnt sich daran, dass jemand auf einen schießt“

Februar 2016

Carsten Stormer (42) berichtet seit über einem Jahrzehnt als Kriegsreporter von all den Krisenherden dieser Welt. Von seinem Wohnort Manila aus sprach Stormer mit „Thema Vorarlberg“ über Krieg, Terror und berührende Schicksale – und warum er das Erlebte, all diese Bilder des Schreckens, gar nicht aus seinem Kopf bekommen will.

Sie schreiben in Ihrer Autobiografie, dass Sie nach Beendigung Ihres Journalismus-Studiums Ihre Wohnung gekündigt, Ihre Möbel verbrannt – und ein One-Way-Ticket nach Afghanistan gekauft haben. Das war 2004. Dort erlebten Sie Ihr erstes Gefecht. Und seither berichten Sie von den Krisen-herden dieser Welt. Haben Sie diesen Schritt jemals bereut?

Nein. Ganz im Gegenteil. Ich erlebe Situationen, die andere nur aus den Nachrichten kennen. Ich erlebe Geschichte hautnah. Und zu wissen, was in Afghanistan passiert, oder im Irak, und diese Menschen vor Ort kennenlernen zu dürfen, das empfinde ich als großes Privileg. Ich komme soeben aus dem Nordirak zurück, habe dort PKK-Rebellen und den Kampf und das Leid der Jesiden in der Stadt Sindschar ein Jahr lang begleitet – und ihren Kampf gegen den Islamischen Staat dokumentiert. Es war ein großes Privileg, zu erfahren, wie diese 15 Monate lang eingekesselte Stadt von den Kurden, unterstützt von Luftschlägen der IS-geführten Koalition befreit worden ist.

Waren Sie in Sindschar mitten im Häuserkampf?

Ja. Die Stellungen zwischen den Kämpfern der PKK und des Islamischen Staats waren teilweise nur 25 Meter voneinander entfernt, nur durch eine Straße oder eine Häuserzeile getrennt. Scharfschützen haben sich aus der Deckung heraus beschossen. Es war ein Scharfschützen- und Granatenkampf.

Die Erfahrung ist ja nicht neu für Sie. Sie wurden von Bewaffneten in Mogadischu bedroht, in Afghanistan beschossen, im Irak sogar angeschossen …

Das Risiko kann man nie ganz ausschließen, aber man sammelt über die Jahre hinweg auch mehr Erfahrung, hat bessere Kontakte, auch mehr Geld, um für seine Sicherheit mehr ausgeben zu können. Früher bin ich einfach gereist, ohne zu planen, habe gehofft, dass alles gut geht. Mogadischu war riskant. Da geriet ich in eine Situation, in der mich ein Islamist exekutieren wollte …

Wie haben Sie überlebt?

Ich habe mich geweigert, zu tun, was er von mir verlangte – mich hinzuknien, damit er mich besser erschießen kann. Das Spiel haben wir so lange getrieben, bis endlich mein Kontaktmann kam. Der hat dann auf diesen Menschen eingeredet und ihn gebeten, mich nicht zu erschießen. Zu mir hat er gesagt: Nimm deine Kamera, geh zum Auto, blick dich nicht um. Aber das war damals auch meiner Unerfahrenheit geschuldet. Ich habe Fehler gemacht, die ich heute wohl nicht mehr machen würde. Und solche Erfahrungen wie diese Situation in Mogadischu hängen einem lange nach. Es ist das mieseste Gefühl, das man sich vorstellen kann: der Willkür eines Bewaffneten ausgeliefert zu sein, ohne zu wissen, ob er gleich abdrückt oder mich leben lässt. Aber wenn Sie Afghanistan ansprechen: Man gewöhnt sich daran, dass jemand auf einen schießt. Man gewöhnt sich auch an die Granaten, man gewöhnt sich an das Bombardement, weil man häufig ja nicht selbst das Ziel ist und rund um einen ja sowieso geschossen wird. Das ist Teil des Alltags in meinem Beruf. Im Übrigen habe ich vor jeder Reise Angst, auch während ich dort bin. Angst ist immer ein sehr guter Begleiter …

Abenteuerlust hat Sie 2004 in die Welt gezogen. Doch im Laufe der Jahre scheint aus dieser Abenteuerlust etwas anderes geworden sein.

Ja. Ich bin mit Karl May groß geworden, habe die Seereisen von Kapitän Cook gelesen, Indiana Jones war ein Vorbild. Auch dieser Nimbus eines Kriegsberichterstatters und die damit verbundene gewisse Romantik haben mich gereizt. Am Anfang war es die Abenteuerlust, da haben Sie recht. Aber wenn man sich selbst und seinen Beruf als Kriegsberichterstatter ernst nimmt, und diese Art von Leid und Horror erlebt, wie ich das in verschiedenen Ländern hautnah erlebt habe, dann ändert sich das. Würde Abenteuerlust immer noch an erster Stelle stehen, hätte man seinen Job verfehlt. Dann würde man die Menschen auch nie so erreichen können, um eine Veränderung in den Köpfen hervorrufen zu können. Man könnte in diesem Fall nie Aufklärungsarbeit leisten, nie eine Brücke schaffen zu den Zuschauern oder den Lesern, man könnte nie vermitteln, was vor Ort passiert. Wenn man als Kriegsreporter sieht, wie Kinder sterben, wenn man erlebt, unter welchen Bedingungen Flüchtlinge in Lagern leben müssen, wenn man hautnah erlebt, wie Menschen getötet werden – würde man all das nur als Selbstzweck betrachten, hätte man seinen Job verfehlt.

Sie nennen sich selbst einen Chronisten, einen Zeugen. Wie ist das zu verstehen?

Das ist die Aufgabe eines Journalisten. Ich beschreibe, was vor Ort passiert, und berichte aus Gebieten, in denen sehr oft gar keine oder nur sehr wenige ausländische Journalisten arbeiten. Wenn man sieht, was in Ruanda oder in Bosnien passiert ist, oder jetzt im Islamischen Staat passiert, dann ist es die journalistische Pflicht, hinzuschauen und das in die Medien zu bringen. In unserer heutigen Zeit kann man die Ausrede nicht mehr gelten lassen, man habe von nichts gewusst.

Sie schreiben in Ihrer Autobiografie: Es sind nicht die Toten, die mich berühren, es sind die Lebendigen.

An die Bilder der Toten gewöhnt man sich. Am meisten berühren mich die Menschen, die ihre Toten betrauern, Menschen, die jede Hoffnung aufgegeben haben, die alles verloren haben. Es ist menschlich nur sehr schwer zu begreifen, wie es sein muss, wenn man auf einmal nichts mehr hat – wie es sein muss, wenn die Familie umgebracht wird, wenn alle Freunde getötet werden.

Sie waren mit dem vom IS enthaupteten James Foley befreundet, auch mit anderen Kriegsreportern, die getötet wurden.

Die Schicksale von Leuten, die man persönlich kannte, hängen einem lange nach. 2014 war ein Jahr, in dem ich sehr lange überlegt habe, ob ich weitermachen soll. Anfang des Jahres starben zwei Syrer, die mir in Syrien das Leben gerettet hatten, im August war James enthauptet worden. Mein Vater starb in diesem Jahr vollkommen unerwartet, im Oktober wurde mein Sohn geboren. Das waren, binnen kurzer Zeit, so viele Emotionen – ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Kann man als Familienvater diese Risiken überhaupt noch auf sich nehmen? Darf man das überhaupt? Ich habe sehr lange mit mir gerungen, dann aber festgestellt, dass das der Beruf ist, den ich auch weiterhin machen will.

Wie bekommen Sie die Bilder des Schreckens aus dem Kopf, all diese Opfer, die Toten, die Verstümmelten?

Ich will diese Bilder nicht aus dem Kopf bekommen. Diese Bilder treiben mich an. Diese Bilder prägen mich. Es berührt mich, was ich vor Ort erlebe. Und es wäre auch den Angehörigen und den Sterbenden gegenüber nicht angemessen, zu sagen: „Ich will vergessen, was ich gesehen habe.“ Ich will möglichst viel da-rüber berichten, in Fernsehsendungen, in meinen Büchern, in Interviews. Das ist die beste Art und Weise, diesen Erlebnissen gerecht zu werden, es ist die einzige Art, den Menschen vor Ort gerecht zu werden. Nicht um da falsch verstanden zu werden: Das alles geht mir natürlich sehr nahe, all das Erlebte, all das Leid, all der Schrecken. Es wäre in meinen Augen allerdings geradezu unverantwortlich, die Bilder vergessen zu wollen!

Stumpft man aber nicht auch ab, unweigerlich, als Selbstschutz?

Nein. Ich gebe mich aber auch keinen Illusionen hin: Ich kann ungefähr voraussehen, was mich vor Ort erwartet. Deswegen bin ich auch nicht überrascht, dass dort Menschen sterben. Ich weiß, dass mich dort sehr großes Leid erwartet. Sobald ich merken würde, dass ich zynisch werde, dass mich nichts mehr berührt und ich abstumpfen sollte, würde ich mir einen neuen Beruf suchen. Denn dann könnte ich meinen Auftrag nicht mehr erfüllen.

Muss ein Kriegsreporter Distanz wahren?

Zumindest in der Berichterstattung sollte man es versuchen. Aber wenn man vor Ort ist, ist Distanz etwas Utopisches. Wenn man sieht, wie Zivilisten bombardiert werden, wie Menschen enthauptet werden, wie Kinder sterben, wie Menschen in Flüchtlingslagern leiden, fällt es sehr schwer, Distanz walten zu lassen.

Wollten Sie denn, in bestimmten Momenten, nie selbst zur Waffe greifen und den Unterdrückten, den Opfern, beistehen?

Ich verstehe, dass Menschen zur Waffe greifen und sich verteidigen, ich verstehe, dass sich Menschen gegen die Unterdrückung durch Diktaturen wehren. Aber selber zur Waffe greifen? Nein. Das habe ich nur einmal gemacht. Bei meiner ersten Reise nach Afghanistan hatte mir ein US-Soldat eine Waffe in die Hand gedrückt, in einer Situation, in der uns Taliban umzingelt hatten, und gesagt: „Wenn die kommen, musst auch du schießen – sonst sterben wir alle.“ Ich habe die Waffe genommen. Heutzutage würde ich darauf nicht mehr eingehen. Mir ist sehr häufig eine Waffe angeboten worden. Aber ich habe, mit dieser einen Ausnahme, immer abgelehnt, weil ich der Überzeugung bin, dass ein Journalist nicht mit einer Waffe in der Hand in einem Krisengebiet herumlaufen sollte. Das würde mich zu einer Partei machen. Wobei ich natürlich parteiisch bin – ich weiß schon, wo mein Mitgefühl ist. Und das ist niemals auf der Seite der Aggressoren, niemals auf der Seite der Unterdrücker.

In ihrem Buch schreiben Sie auch von Momenten des Zweifelns. In Mindanao auf den Philippinen, als sie die Kamera sinken ließen – und die Hand eines sterbenden Mädchens hielten, umgegeben von Schaulustigen …

Ich habe die Wunden gesehen und mir war klar, dass das Mädchen sterben würde, sollte es keine Hilfe bekommen. Dort gab es keinen Arzt! Alle sind nur herumgestanden und haben dem Mädchen beim Sterben zugeschaut. Und mir ist plötzlich bewusst geworden, dass ich Teil dieser Schaulustigen bin. Deswegen bin ich zur nächsten Armeestelle gerannt und habe zu erreichen versucht, dass das Mädchen zum nächsten Krankenhaus geflogen wird. Leider hat das alles nichts geholfen, die Hilfe kam zu spät, das Mädchen ist gestorben. Es gab viele Situationen in meinem beruflichen Leben, in denen ich die Kamera weggelegt habe, kurz aufgehört habe, Journalist zu sein, und den Menschen half – würde man dieses Mitgefühl nicht mitbringen, hätte man seinen Beruf verfehlt.

Sie schreiben von Menschen, die nichts haben, keine Gegenwart, keine Zukunft, und trotzdem teilen – in berührenden Momenten der Menschlichkeit.

Das ist auch das, was Hoffnung gibt. Das ist eine Menschlichkeit, die man in unseren gesättigten Gesellschaften nur ganz selten erlebt. Menschen, die das Wenige, was sie noch haben, mit anderen Menschen teilen. Auch mich haben Menschen aufgenommen, die für ihre Familien kaum etwas zu essen hatten und die sich weigerten, von mir Geld zu nehmen, weil sie es als ihre Pflicht ansahen, mir zu helfen. In diesen Extremsituationen kommt das Beste der Menschen zum Vorschein – und leider auch das Schlechteste.

Sie leben heute in Manila. Warum, Herr Stormer, ausgerechnet auf den Philippinen?

Das frage ich mich auch sehr häufig (lacht). Aber meine Familie lebt hier, meine Frau ist halb Deutsche, halb Philippinin. Ihr Lebensmittelpunkt ist auf den Philippinen. Und ich bin sieben Monate im Jahr unterwegs. Das ist unser Deal: Meine Frau unterstützt mich in meinem Beruf. Ich lebe dafür dort, wo sie leben will. Und bei all den Problemen, die die Philippinen haben, und trotz der Tatsache, dass Manila eigentlich eine Albtraumstadt ist: Es gibt auch hier schöne Sachen.

Und wohin geht’s als nächstes?

Vermutlich in den Mittleren Osten, in den kurdischen Teil Syriens. Oder in den Nordirak.

 

Viel Glück – und vielen Dank für das Gespräch!

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.