
„Man kann nicht erkennen, wo die große Wende herkommen soll“
Ökonom Christian Keuschnigg (56), Professor an der Universität St. Gallen und bis vor Kurzem Direktor am Institut für Höhere Studien (IHS), fordert von Österreichs Politik vehement ein Umdenken ein. Beispiel Reformstau: „Werden Fehlentwicklungen nicht korrigiert, kann es keine Wendung zu einer positiveren Entwicklung geben.“
Sie sind Professor für öffentliche Finanzen an der Universität St. Gallen, waren Direktor des Instituts für Höhere Studien in Wien. Worin unterscheidet sich die Wirtschaftspolitik der beiden Nachbarländer?
Da gibt es viele Unterschiede. In der Schweiz sind die öffentlichen Finanzen in guter Form, die Staatsverschuldung ist moderat, und dennoch investiert der Staat mehr, zum Beispiel in Grundlagenforschung; das stärkt die Innovation in der Privatwirtschaft. Die Steuerbelastung ist geringer, nicht zuletzt wegen des Steuerwettbewerbs und weil die Bürger in direkten Abstimmungen regelmäßig teure Ausgabeninitiativen ablehnen. Moderate Steuerbelastung und ein investiver Staat stärken die Standortattraktivität. Das Land ist besser auf die Alterung vorbereitet. Vor allem arbeiten die Schweizer mehr: 40-Stunden-Woche, Ruhestand mit 65 und eine sehr niedrige Arbeitslosenrate entlasten den Sozialstaat und machen eine gute Absicherung bei akzeptabler Beitragsbelastung möglich. Das sind doch gewaltige Unterschiede zur Politik und zur wirtschaftlichen Situation in Österreich.
In der Wachstumsprognose der EU ist Österreich jedenfalls auf den viertletzten Platz zurückgefallen. Nur 0,8 Prozent soll die Wirtschaft wachsen. Doch wird dieser Umstand von der Politik allenfalls zur Kenntnis genommen …
Mit dem Wachstumsvorsprung gegenüber der EU ist es vorbei. Impulse kommen weder vom Inland noch vom Ausland, denn die Eurozone wird noch länger unterdurchschnittlich wachsen, mit Ausnahme der Reformländer Spanien, Portugal und Irland. Die Dynamik ist nicht gut. Das Pensionssystem lastet wie ein Mühlstein auf den Staatsfinanzen, weil die Korrektur des Ruhestandsalters zu langsam geht. Die Arbeitslosigkeit steigt, dazu kommen Sonderbelastungen wie die Hypo Alpe Adria. Der Staat investiert nicht mehr genug. Der sichtbarste Ausdruck sind die fehlenden Mittel für wettbewerbsfähige Universitäten und für die Grundlagenforschung, das wären die wichtigsten Investitionen für
innovationsgetriebenes Wachstum. Im Schulwesen wird auch zu wenig Erfolg mit den eingesetzten Geldern erzielt. Es gibt zunehmend Anzeichen für eine nachlassende Wettbewerbsfähigkeit, die man an der Exportentwicklung im Vergleich etwa zu Deutschland ablesen kann. Die Rückführung der Staatsschuld fällt unendlich schwer, so dass man nicht wirklich auf eine kräftige Steuerentlastung hoffen kann. Man kann derzeit nicht erkennen, wo die große Wende herkommen soll.
Bremst der Reformstau die Wirtschaft?
Aber natürlich. Es gibt ja offensichtliche Fehlentwicklungen. Wenn diese nicht korrigiert werden, dann kann es auch keine Wendung zu einer positiveren Entwicklung geben, sondern nur eine Fortsetzung der ungünstigen Dynamik.
Andritz-Chef Wolfgang Leitner drohte jüngst, dass es eine Belastungsgrenze gebe und kein Unternehmen in Österreich angenagelt sei. Auch wenn Leitner dramatisiert, gewiss, scheint Fakt, dass der Unmut in der Unternehmerschaft größer wird. Zu Recht?
Ja, die Unternehmen sind nicht angenagelt. Gerade die innovativsten Unternehmen haben das größte Wachstumspotenzial und sind sehr spezialisiert. Der Heimmarkt ist viel zu klein. Sie müssen den Weltmarkt beliefern. Aber dort herrscht eben weltweite und damit ungleich härtere Konkurrenz. Wer seine Kosten nicht in den Griff bekommt, kann dort keinen Erfolg haben. Deshalb ist es ganz normal, dass ständig nach den kostengünstigsten Standorten gesucht wird. Wenn die Lohnkosten und vor allem die Steuer- und Abgabenbelastung ständig steigen, dann gibt es Abwanderung, es sei denn, die Innovationskraft der Wirtschaft und die Qualifikation der Arbeitnehmer können das wettmachen. Aber dafür müsste der Staat mehr investieren und mehr Erfolg in Bildung, Grundlagenforschung und privater Innovation ermöglichen.
Sie sagten in einem Interview, in politischer Hinsicht sei es in Österreich zu italienischen Verhältnissen gekommen …
Die Parteienlandschaft hat sich nivelliert, möglicherweise werden künftig zwei Parteien nicht mehr ausreichen, um eine Regierung zu bilden. Wenn sich ähnlich starke Partner mit unterschiedlicher Weltanschauung gegenüberstehen, ist eine geschlossene Linie nur mehr schwer möglich und die Partner können sich gegenseitig oft blockieren. Es wird schwieriger, eine mutige Strategie politisch durchzubringen. Die wirklich wichtigen Initiativen haben zuerst Kosten, während die Vorteile nur langsam spürbar werden. Eine langfristig angelegte Wirtschaftspolitik braucht große Geduld, das ist in dieser Situation schwer durchzustehen. Dazu kommt, dass in Österreich die direkte Demokratie unterentwickelt ist. Die Bürger können selbst nicht eingreifen und ein Machtwort sprechen, wenn große Entscheidungen zu treffen sind.
Was muss denn passieren, um die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs zu verbessern?
Eine entscheidende Verantwortung haben die Sozialpartner in der Lohnfindung, die nicht mehr verteilen darf, als mit der Arbeitsproduktivität vereinbar ist, denn sonst droht Abwanderung und Arbeitslosigkeit. Die Belastung mit Steuern und Abgaben ist sehr wichtig, sie machen ja etwa die Hälfte der Bruttolohnkosten aus. Noch wichtiger ist aber systematische Innovation. Dazu muss der Staat bei Bildung, Grundlagenforschung und technologischer Infrastruktur die notwendigen Vorleistungen erbringen. Qualitätssteigerungen oder ganz neue Produkte schaffen den Preisspielraum, um höhere Kosten unterzubringen, denn die Nachfrager zahlen für bessere Qualität gerne mehr. Wer nicht mit einem Qualitätsvorsprung punkten kann, dem bleibt nur der Preiswettbewerb. Da wird es dann angesichts des zunehmenden Wettbewerbs durch lohngünstige Schwellenländer sehr eng. Diesen Wettbewerb können wir nur verlieren.
Die Steuerquote muss runter – ist es das?
Ja. Man darf nicht vergessen, dass der Steuerwiderstand und damit die schädliche Wirkung der Steuern auf das Wachstum progressiv und nicht linear mit der Höhe der Steuersätze zunimmt. Wir haben eine überdurchschnittlich hohe Steuer- und Abgabenquote, daher sind bei uns die Steuern überdurchschnittlich schädlich und kostspielig. Wir könnten daher auch überdurchschnittlich viel gewinnen, wenn eine Absenkung der Steuerbelastung gelänge.
Eine Senkung der Lohnnebenkosten, von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite seit Langem gefordert, bleibt in Österreich eine Utopie.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Irgendjemand muss auf etwas verzichten, wenn die prohibitive Steuerbelastung zurückgehen soll. Sonst ist ein Befreiungsschlag sicher nicht möglich. Die investiven Ausgaben müssen erhalten bleiben, damit der Staat die notwendigen Vorleistungen für das Wachstum erbringt. Also bleibt: Ruhestandsalter hoch, Sozialleistungen treffgenauer und sparsamer verteilen, wo sie wirklich nötig sind, Subventionen und alle anderen Staatsleistungen für Konsumzwecke durchforsten. Woher soll sonst der Spielraum kommen, um Steuern zu senken?
Bringt die aktuelle Steuerreform eine Verbesserung?
Nicht wirklich. Sie gibt ja nur das knapp zurück, was vorher ohne politische Diskussion und parlamentarischen Beschluss an schleichenden Steuererhöhungen durch kalte Progression zugewachsen ist. Im längerfristigen Durchschnitt sehen wir damit leider keine Absenkung der Steuerquote. Grundlegende Probleme des österreichischen Steuersystems wie die weiter wirkende kalte Progression, die Aushöhlung der Bemessungsgrundlagen mit der Folge von überhöhten Steuersätzen sowie die mangelnde Treffsicherheit der Verteilungswirkungen bleiben weiter ungelöst. Immerhin, es ist ein erster notwendiger Schritt, dem nun echte Strukturreformen folgen müssen. Es gibt noch große Möglichkeiten für mutige Finanzpolitiker, sich zu profilieren.
Sie haben sich mehr als nur einmal gegen Vermögensteuern ausgesprochen. Warum eigentlich?
Wir haben mit der Grundsteuer und der Grundverkehrsteuer bereits Vermögen- und Erbschaftssteuern, und zwar auf erhebliche Teile des Vermögens. Diese können durch Aktualisierung der historischen Einheitswerte etwas ausgebaut und damit auch besser, weil weniger willkürlich, gestaltet werden. Die Einkommen aus Unternehmensbeteiligungen und Finanzvermögen werden bereits mit der Körperschaftsteuer und der Kapitalertragsteuer systematisch erfasst. Diese Vermögen dienen der Finanzierung von Unternehmen und damit von Jobs, da noch etwas raufzusetzen wäre kontraproduktiv. Und noch etwas: Wenn in der Rezession keine Erträge mehr da sind oder Verluste auftauchen, wird die Vermögensteuer zu einer konfiskatorischen Substanzsteuer, wenn im Boom die Erträge überdurchschnittlich hoch sind, dann wird sie vernachlässigbar. Das stellt das Leistungsfähigkeitsprinzip auf den Kopf! Außerdem verstärkt sie damit die privaten Ertragsschwankungen für die Eigentümer, sprich erhöht künstlich das Risiko und mindert die Risikobereitschaft. Was wir aber nach der Finanzkrise ganz dringend brauchen, ist, dass irgendjemand noch ein Risiko zu übernehmen bereit ist, ohne es auf andere zu schieben. Wir brauchen Risikokapital.
Apropos Vermögen: Österreichs Image ist dank Hypo und Heta schwer beschädigt. Britische Medien bezeichnen unser Land bereits als „Mini-Griechenland im Herzen Europas“ …
Erstens muss man einmal festhalten, dass Hypo und Heta abgewickelt werden und damit im Bankensektor eine wichtige Aufräumarbeit erfolgt. In Zukunft wird es dafür mit der Bankenunion ein geordnetes Verfahren geben, das die Schäden unter Kontrolle hält. Damit es möglichst selten vorkommt, müssen die Finanzinstitute mehr Eigenkapital und Liquidität vorhalten und mit den Insolvenzfonds sich selbst versichern, statt den Steuerzahler zu belasten. Heute ist es leider sehr kostspielig, nicht zuletzt deshalb, weil der Fall so lange verschleppt wurde, während unsere Nachbarn das schon viel früher erledigt haben, mit ebenfalls sehr schmerzlichen Kosten. Zweitens ist der Fall ein Versagen des österreichischen Föderalismus, denn die völlig untragbaren Garantien des Landes Kärnten als Teil des österreichischen Staates haben die billige Finanzierung des verhängnisvollen Expansionskurses erst möglich gemacht. Heute sind wir so weit, dass eine öffentliche Garantie von einem prinzipiell zahlungsfähigen Staat und damit die Glaubwürdigkeit staatlicher Versprechen plötzlich fragwürdig werden.
Was kann Österreich aus dem Desaster lernen – außer der Tatsache, dass letzten Endes immer der Steuerzahler die Rechnung zahlt?
Wir können zwei Dinge lernen: Erstens braucht es mehr Eigenkapital und Liquidität, damit die Insolvenzrisiken im Bankensektor sinken. Zweitens braucht es die Bankenunion mit einem geregelten Abwicklungsverfahren und die Insolvenzfonds, damit der Sektor die Kosten selbst trägt und der Steuerzahler außen vor bleibt. Man darf aber dem Bankensektor nicht den Weg zu einem sicheren Geschäftsmodell versperren, indem man durch Doppel- oder Dreifachbelastungen die Gewinne wegsteuert, die notwendig sind, um durch Einbehaltung Eigenkapital aufbauen zu können. Und drittens braucht es mehr Disziplin und Verantwortlichkeit im österreichischen Föderalismus. Am Beginn des Desasters standen die Garantien, die Kärnten niemals hätte aussprechen dürfen.
Sie gelten als Verfechter eines Steuerföderalismus – fordern also eine Steuerhoheit der österreichischen Bundesländer bei Massensteuern, ganz nach dem Vorbild der Schweizer Kantone.
Wer anschafft, muss auch zahlen. Die Verantwortung für Einnahmen und Ausgaben gehört in eine Hand, sonst kann es keine Disziplin geben. Wir klagen über steigende Steuerlasten. Aber heute ist es so, dass ein Land für das Sparen abgestraft wird. Wenn man Ausgaben kürzt, kann man die Vorteile der eigenen Bevölkerung nicht weiterreichen, weil man die Steuern nur für alle und nicht separat für ein einzelnes Land senken kann. Man würde nur für die anderen acht Länder sparen. Man kann die Steuern auch nicht erhöhen, wenn man besonders dringende und produktive Ausgaben tätigen wollte. Was ist das für ein Gestaltungsanspruch für die Landespolitik, wenn man ein so wichtiges Instrument wie die Steuereinnahmen nicht kontrollieren möchte? Und zuletzt: Ein Land wie Kärnten sollte jetzt seine Steuern erhöhen müssen, um für den dort verursachten Schaden wenigstens zum größeren Teil selber aufzukommen, anstatt die anderen oder den Bund zahlen zu lassen. Es geht aber nicht. Ist das ein kooperativer Föderalismus, der für den Zusammenhalt in Österreich steht?
Die Schweizer Handelszeitung berichtete, Wirtschaftsminister und Finanzministerin würden einen neuen Mindestkurs erwägen, als beste Möglichkeit, der Wirtschaft zu helfen. Hat sich die Schweiz mit der Preisgabe des Mindestkurses von 1,20 Franken verspekuliert?
Ich glaube, es gab angesichts der unkontrolliert anwachsenden Devisenreserven keine Alternative. Selbstverständlich kann die Nationalbank auch ohne Mindestkurs auf den Devisenmärkten intervenieren, um ein allzu großes Abweichen des Franken-Kurses von seinem nachhaltigen Wert zu verhindern. Die Schweizer Wirtschaft ist innovativ und wird auch diesen Schock verkraften. Die Aufwertung ist eben auch eine Produktivitätspeitsche. Es werden zwei Dinge passieren: Die Unternehmen werden noch mehr als früher Teile der lohnintensiven Produktion ins Ausland verlagern, und sie werden noch mehr rationalisieren und innovieren. Zudem werden Vorleistungen, Rohstoffe und andere Importe billiger und entschärfen die Situation. Die Politik denkt jetzt über Maßnahmen zur Stärkung der Standortattraktivität und der Innovationskraft nach. Das ist der richtige Ansatz, um den Franken-Kurs wieder „richtig zu machen“. So schmerzvoll eine schockartige Aufwertung für die Wirtschaft ist, sie macht die Schweizer reich, ihre Kaufkraft nimmt gegenüber dem Ausland gewaltig zu.
Vielen Dank für das Gespräch!
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