Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

1945 – Gedenken oder Nachdenken?

Juni 2020

Was bedeutet das Kriegsende 1945? Was bedeutete es damals? Was bedeutet es heute? Und für wen? Damals war die Bevölkerung tief gespalten. All jene, die verfolgt und durch das Regime gedemütigt worden waren, die in Lagern und Gefängnissen saßen, die gegen ihren Willen in der Wehrmacht Dienst leisten mussten, fühlten sich befreit. Für die vielen begeisterten Nationalsozialisten, die vor 1938 auf den Anschluss hingearbeitet hatten und von den Siegen der deutschen Armee nach Kriegsbeginn begeistert waren, die spätestens seit der Einkesselung und Kapitulation der 6. Armee bei Stalingrad ahnen konnten, dass sich das Blatt endgültig gewendet hatte, war der Ausgang des Krieges eine bittere Niederlage, die Enttäuschung ihres Lebens. Zwischen diesen Extremen, den begeisterten und oft sogar fanatischen Nazis einerseits und den Verfolgten und Entrechteten andererseits, gab es viele andere: Mitläufer, Wendehälse, Gesinnungsjongleure, Gelegenheitsariseure, unpolitische Mitbürger, Skeptiker, weltanschauliche Nazigegner. Für die allermeisten war Widerstand aus vielerlei einsichtigen Gründen kein Thema. Viele mochten Erleichterung fühlen, hatten aber auch Angst vor dem Ungewissen. Man wusste nicht, was nach Kriegsende sein würde, die Propaganda hatte ja die Feinde, die nun Sieger waren, in Monster verwandelt.
Am 8. Mai 1945 wurde der Zweite Weltkrieg durch die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht beendet. Schon am 27. April – dem Tag, an dem noch auf Befehl von August Eigruber, Gauleiter von Oberdonau, 43 kommunistische Widerstandskämpfer ermordet wurden – hatte Karl Renner in Wien eine provisorische Staatsregierung gebildet, die durch den sowjetischen Marschall Tolbuchin de facto anerkannt worden war und am 28. April ihre offizielle Tätigkeit aufnahm. Am 29. April trat sie erstmals zu einer Sitzung des Kabinettsrates zusammen. An die anwesenden Vertreter der Stadt Wien und an den provisorischen Bürgermeister General Theodor Körner richtete Renner die Worte: „Sie haben in der Stunde der Not, von Niemandem gerufen als von dem Vertrauen des Volkes und von Ihrem eigenen Gewissen, die Geschäfte in die Hand genommen. Das ist ein Symbol für die ganze Art und Weise, wie unser neues Staatswesen, unsere Republik zustandekommen kann. Es wächst von unten herauf, es wächst von den kleinsten Landgemeinden zu den Stadtgemeinden bis herauf zu unserer von allen heißgeliebten Hauptstadt, unserer ehrwürdigen, glorreichen Stadt Wien.“ Die zurückliegenden Jahre erwähnte Renner in seiner kurzen Ansprache folgendermaßen: „Wir wissen, daß bei der Schwächung unseres Volkskörpers und bei der Entgüterung unserer Volkswirtschaft nach einem 6-jährigen Kriege diese Kraft nicht allzu groß sein kann. Aber strengen Sie alle Ihre Kräfte an, um unser Volk aus dieser furchtbaren Katastrophe herauszuführen.“ 
In diesem Kabinettsrat saßen Sozialdemokraten, Christlichsoziale und Kommunisten und bestimmten die Geschicke Österreichs in den Monaten nach Kriegsende bis zur ersten Nationalratswahl am 25. November 1945, die die Christlichsozialen, nunmehr als ÖVP, mit absoluter Mehrheit gewinnen sollten. Wie Renner wenige Tage später bemerkte, war die Legitimität der Regierung nur durch das Vertrauen gegeben, das die Bevölkerung hatte. „Ich will nicht Staatskanzler sein, weil vielleicht Rußland oder eine andere Macht es wünscht“, sagte er im Kabinettsrat, „sondern weil Österreich zu mir Vertrauen hat.“
Tatsächlich waren – von Wien und Niederösterreich abgesehen – die Bundesländer in dieser provisorischen Staatsregierung nicht vertreten, aus ganz pragmatischen Gründen, es herrschte noch längst keine Reisefreiheit, die Kommunikationsmöglichkeiten waren höchst eingeschränkt, noch herrschten chaotische Zustände und da und dort gab es auch noch Kämpfe. Bregenz wurde am 1. Mai 1945 beispielsweise durch französische Kampfflugzeuge bombardiert und mit Artillerie beschossen, nachdem ein Ultimatum zur Kapitulation von den deutschen Truppen ignoriert worden war.
Die Frage, ob die Bevölkerung die Besetzung Österreichs durch alliierte Truppen als Befreiung oder als Niederlage empfunden hat, kann nicht nur nicht beantwortet werden, sondern führt auch in die Irre. Nur die militärische Niederlage, die am 8. Mai besiegelt wurde, ermöglichte die Befreiung durch Beendigung des NS-Regimes. Befreit wurden gewiss alle Verfolgten des NS-Regimes, die überlebt hatten, und die gab es überall, auch in Vorarlberg. Dennoch hatten viele vor der Befreiung Angst: Vor dem Einmarsch der Franzosen versuchten viele, in die Schweiz zu flüchten. Schon im März 1945 berichtete ein britischer Journalist, in der Schweiz gebe es für Flüchtlinge nur noch „Stehplätze“. Aus Vorarlberg wurden noch vor dem Einmarsch der Franzosen sechstausend „Fremdarbeiter“ in ein Sammellager des Internationalen Roten Kreuzes bei St. Margarethen gebracht. Und in den Tagen unmittelbar vor der Ankunft der Alliierten standen viele an den Grenzsperren – die Schweiz hatte die Grenze am 19. April geschlossen – Schlange, um doch noch über die Grenze zu kommen, darunter viele Vorarlberger.
Nachdem die alliierten Truppen, in Vorarlberg waren es die Franzosen, die militärischen Aktionen abgeschlossen hatten, dauerte es nicht lange, bis sich auch in Vorarlberg eine provisorische Landesregierung, der sogenannte Landesausschuss, bildete und die Arbeit aufnahm. Die drängendsten Probleme mussten gelöst werden: Die Nahrungsmittelversorgung, der Aufbau der Verwaltung und das Ankurbeln der Wirtschaft. Bei der Ausgabe der ersten Lebensmittelkarten war man ratlos, denn die Getreidelager und Mühlen waren leer. Mit Mühe gelang es, eine Versorgung von drei Kilogramm Brot, 800 Gramm Fleisch und 600 Gramm Fett pro Monat zu gewährleisten. Im Sommer 1945 musste das aber nochmals geschmälert werden. Während sich am Ende des Ersten Weltkriegs 1918 – gerade auch wegen der Ernährungslage – sich in Vorarlberg sehr rasch eine Anschlussbewegung an die Schweiz formierte und bis 1922 die Politik in Atem hielt, war das 1945 kein Thema, gewiss auch deswegen, weil bei aller Ungewissheit klar war, dass die vier Besatzungsmächte über die politische Zukunft Österreichs bestimmen würden.
Zu den drängendsten Problemen hätte natürlich auch gehört, was man damals „Säuberung“ oder später „Entnazifizierung“ nannte, eine schwere Aufgabe. Der Landesausschuss unter Ulrich Ilg (1905–1982, Bauernbundobmann, Staatssekretär unter Dollfuß, Landeshauptmann 1945–1964) überließ diese delikate Aufgabe der Widerstandsbewegung, die daran scheitern und zerbrechen musste. Der Landeshauptmann hielt das Problem für unwichtig: Nur 16,5 Prozent der Vorarlberger, so meinte er, seien Nazis gewesen und überdies hätten 95 Prozent sich zum Ärger der NSDAP für die Beibehaltung des Religionsunterrichtes ausgesprochen, es habe daher in Vorarlberg immer schon eine „geistige Abwehrfront“ gegeben. Immerhin machten die Stimmen jener ehemaligen Nazis, die bei der Nationalratswahl 1945 nicht wählen durften, 1949 dann – zusammen mit den paar Stimmen einiger enttäuschter Wähler anderer Parteien – mehr als 22 Prozent aus (22.271 Stimmen). Allerdings war klar, warum man die Entnazifizierung nur mit aller Vorsicht durchführen konnte und möglichst diskret, unauffällig und schmerzfrei: Bekanntermaßen war die Industrie in Vorarlberg aufgrund der hohen Industrialisierung von großer Bedeutung, insbesondere die Textilbranche. Jeder im Land wusste, dass die mächtigen Fabriksherrn – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die Finanziers und Hintermänner der illegalen NSDAP gewesen waren, insbesondere die Textilbarone. Gerade von einer funktionierenden Industrie war man nun aber besonders abhängig. Genauso war es in der Verwaltung und in den Schulen. Man konnte unmöglich alle Beamten und Lehrer, alle Ärzte und Anwälte, die Anhänger und Mitläufer des NS-Regimes gewesen waren, sofort austauschen. Man konzentrierte sich auf einige wenige besonders heikle Bereiche, die Exekutive und die Justiz und hier nur die auf die schlimmsten Nazis und auf jene, die nicht aus Vorarlberg stammten, und war ansonsten allen anderen gegenüber, die man als Experten, Spezialisten und Unternehmer brauchte, so tolerant wie möglich. Selbst Karl Renner sagte in einer Ansprache vor Beamten am 10. Mai 1945, es stehe fest, dass all jene, die „im Mussolini-Faschismus“ (gemeint ist der Austrofaschismus) oder „im Hitlerfaschismus“ eine „führende Rolle“ gespielt haben, nicht in den öffentlichen Dienst übernommen werden können. Aber Staatsdiener, „die in leidenschaftlicher Freude und Erwartung, daß es doch zum Anschluß kommt, mitgegangen sind, weil sie nicht vorausahnen konnten, in welches Abenteuer diese Politik unser Volk stürzen wird“, so versicherte der Staatskanzler, könnten „ruhig zurückkehren in ihr bürgerliches Leben und sie werden auch in Ämtern ruhig arbeiten können.“
 

Das Chaos von Kriegsende und gleich­zeitigem Neubeginn war nicht der Moment für tief­greifende Reflexionen.

In einem Interview, das Landeshauptmann Ilg im September 1945 einer Schweizer Tageszeitung gab, war die Entnazifizierung auch gar kein Thema. Ilg lag vor allem daran, das gute Verhältnis zur französischen Besatzungsmacht zu betonen. Es sei ihm wichtig, sagte er, „die im Auslande verbreiteten Gerüchte, wonach die Franzosen unmenschliche Handlungen gegenüber der einheimischen Vorarlberger Bevölkerung sich zuschulden kommen lassen, auf das entschiedenste zurückzuweisen.“ (Die Tat, 26. 9. 1945) Es habe anfangs „einige Mißverständnisse und vereinzelte Ausschreitungen“ gegeben, aber die Beziehungen seien von Tag zu Tag besser geworden. „Einen besonderen Beweis für diese Tatsache“, meinte Ilg, „erbringen jene Nationalsozialisten, die ihren Aerger über diese Besserung der Verhältnisse nicht verbergen können.“ Er konstatierte eine „treuösterreichische Einstellung“ und wies darauf hin, dass man vor Kriegsende „viel stärkere Katastrophenerscheinungen“ befürchtet habe. Selbst nach Kriegsende habe man nicht geglaubt, „daß wir bis in die jetzige Zeit so viele Sorgen überwinden könnten.“
Das Ende der NS-Herrschaft bedeutete nicht nur das Kriegsende, auch das Ende der Verfolgung von Juden, Roma, Sinti, der Homosexuellen, der Zeugen Jehovas und politisch Andersdenkender. Die Lager und Gefängnisse öffneten sich, die Überlebenden versuchten nach Hause zurückzukehren, wenn es ein „Zuhause“ überhaupt noch gab. Viele Menschen waren durch die Kriegsereignisse vertrieben worden, waren nun abgeschnitten von ihrer jeweiligen Heimat. In Ländern wie Polen, Tschechien und der Slowakei, auch in Jugoslawien und anderswo wurden nun – ob sie Nazis waren oder nicht – Deutsche vertrieben. Für alle diese „displaced persons“, kurz DP’s genannt, wurden Auffanglager eingerichtet, gleichzeitig auch für jene, die als Repräsentanten des NS-Regimes durch Organe der Besatzungsmächte verhaftet und interniert wurden.
Das Chaos von Kriegsende und gleichzeitigem Neubeginn war nicht der Moment für tiefgreifende Reflexionen, etwa darüber, ob man gerade eine Niederlage oder eine Befreiung erlebte, wie man mit der Verantwortung oder gar Schuld umgehen sollte, die man persönlich oder als Gemeinschaft, als Gesellschaft oder Staat zu tragen hatte. Viel einfacher war es, alles auf die Deutschen zu schieben, mit den Nazis in Vorarlberg und Österreich musste man ja zusammenleben. Was die Hämmerles in Vorarlberg, waren die Schoellers in Wien und Hasslachers in Kärnten. 
Es stellt sich heute die Frage: Wie soll man heute mit so einem „Jubiläum“ umgehen? Nur wenige haben noch persönliche Erinnerungen und die sind trügerisch. Soll man ein Gedenken verordnen? Dann bedeutet es bald nichts anderes als eine lästige Verpflichtung wie früher der Kirchgang an einem Feiertag. Welche Aspekte sollte so eine verordnete Sekundär­erinnerung zelebrieren? Soll man von 1945 aus zurückschauen? Nach vorwärts? 
Auf eines könnte man sich für eine Veranstaltung einmal einigen: Man könnte über jene nachdenken, die als Verfolgte des NS-Regimes in den letzten Kriegstagen getötet wurden. Und über jene, für die das Kriegsende Anlass war, sich selbst das Leben zu nehmen.

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