Peter Bussjäger

Peter Bussjäger (*4. Mai 1963 in Bludenz) ist Verfassungs- und Verwaltungsjurist. Bußjäger war zehn Jahre Direktor des Vorarlberger Landtags. Der Bludenzer ist Professor an der Universität Innsbruck, Direktor des Instituts für Föderalismus und Forschungsbeauftragter des Liechtenstein-Instituts sowie Mitglied des Liechtensteinischen Staatsgerichtshofs. 

(Foto: © Heinz Stanger)

Den Machtverhältnissen Rechnung tragen

September 2020

Die österreichische Bundesverfassung feiert am 1. Oktober 2020 ihren 100. Geburtstag. Sie ist eine der ältesten Verfassungen Europas. Noch vor ein paar Jahren von der Rechtswissenschaft als „Ruine“ geschmäht, wurde ihr bekanntlich von Bundespräsident Van der Bellen hingegen Eleganz und Schönheit zugebilligt. Beides trifft nicht zu. Die österreichische Bundesverfassung ist weder eine Ruine noch elegant und schön, aber mit Sicherheit die komplexeste Verfassung Europas.
Das ändert nichts daran, dass sie ihre Funktionen gut erfüllt. Sie ist eine anerkannte Grundlage des politischen Handelns, und auf ihrer Basis ist Österreich zu den wohlhabendsten und stabilsten Staaten der Welt aufgestiegen. Sogar so etwas wie Verfassungsbewusstsein wird mittlerweile spürbar. Davon konnte in den ersten Jahren ihres Bestehens freilich keineswegs die Rede sein, und auch das Verhältnis Vorarlbergs zur Bundesverfassung war keine Liebe auf den ersten Blick.

Dreifach getöteter Föderalismus?

Die Verfassung war ein Kompromiss zwischen dem christlich-sozialen Lager, das einen Bundesstaat nach Schweizer Vorbild wünschte, und den Sozialdemokraten, die das gerade nicht wollten. Heraus kam ein föderales System, das zwar alle Kriterien des Bundesstaates erfüllte, aber höchst zentralistisch ausgestaltet war. Für die konservative politische Elite in Vorarlberg, die schon den gescheiterten Anschlussversuch an die Schweiz zu verdauen hatte, ein schwerer Schlag. Als sich die Konturen der neuen Bundesverfassung im Frühjahr 1920 abzuzeichnen begannen, polterte Landeshauptmann Otto Ender auf der Linzer Länderkonferenz vom April 1920: „Meine Herren, mit dem föderalistischen Aufputz der ersten Artikel der Verfassung (in Art. 2 ist davon die Rede, dass Österreich ein Bundesstaat ist, Anm.d.A.) ist die Sache ja nicht getan. In anderen Artikeln wird in dreifacher Richtung der Föderalismus getötet und erschlagen. Einmal wird der Föderalismus getötet auf dem Gebiet der Finanzen. Wenn sie den Ländern die Finanzhoheit vollständig nehmen und sie dem Bund zuweisen, wie es hier geschehen ist in diesem Verfassungsentwurf, dann können Sie einen wirklichen und wahren Föderalismus von vornherein nicht mehr erwarten. (…) in zweiter Linie kann man dann den Föderalismus totschlagen durch entsprechenden Aufbau der Artikel 10 – 12 des Entwurfes (…) Es gibt noch eine Form, den Föderalismus praktisch zu töten (…), dass man die Verwaltung der Gebiete, wo sie dem Staat zusteht, nicht durch die Landesregierungen und die Bezirkshauptmannschaften ausübt, wie es der normale Weg ist, sondern in den Ländern draußen eigene Bundesämter dafür einrichtet.“
Ender sprach genau jene Punkte an, die noch heute, 100 Jahre später, die größten Reformbedarfe im bundesstaatlichen System markieren: Die mangelnde Finanzautonomie der Länder, ihre fehlenden gesetzgeberischen Kompetenzen und die Vielzahl eigener Bundesbehörden in den Ländern. Immerhin darf man Landeshauptmann Ender entgegenhalten: Dieser mehrfach getötete Föderalismus war ganz schön zäh und hat 100 Jahre durchgehalten.

Keine Begeisterung

Entsprechend wenig begeistert war man in Vorarlberg, als das Ergebnis feststand. Dies zeigt sich schon daran, dass nicht nur die drei christlichsozialen Abgeordneten der Bundesverfassung nur unter Vorbehalt zustimmten: Etwas trotzig bekundete man, dass Vorarlberg nur vorläufig dabei war. Am 22. November 1920 entsandte der Landtag auch die ersten Vorarlberger Bundesräte nur „unter feierlicher Verwahrung gegen die Annahme, dass dadurch in der provisorischen Zugehörigkeit des Landes und im Recht des Landes auf freie Selbstbestimmung etwas geändert werde.“
Die Konservativen konnten sich immerhin damit trösten, dass auch ihre Gegenspieler, die Sozialdemokraten, unglücklich waren. Im Vorarlberger Landtag sagte der prominente Sozialdemokrat Linder: „Wir sind von allem Anfang dafür eingetreten, dass der Länder-Separatismus innerhalb der Republik aufhören müsse. Wenn wir aber trotzdem für den Bundesstaat gestimmt haben, so nicht deshalb, weil Sie uns etwa eines Besseren belehrt haben, sondern weil auch wir den Machtverhältnissen Rechnung tragen müssen.“ 

Föderalistische Innovationen

Den Sozialdemokraten wurde es allerdings auch nicht gerade leicht gemacht, Liebe für den Föderalismus zu entwickeln. Die christlich-soziale Führung entdeckte nämlich schon bald, dass die Bundesverfassung den Ländern doch gewisse Spielräume ließ, die man nur nützen musste. Die Landesverfassung von 1923 mit ihrer Abkehr von der Proporzregierung war ein erstes Beispiel: Im Gegensatz zu den anderen Ländern, wo alle maßgeblichen im Landtag vertretenen Parteien auch in der Landesregierung repräsentiert waren, öffnete Ender zur Empörung der Sozialdemokraten mit seiner Verfassungsmehrheit im Landtag den Weg zu einer nur von der Mehrheit des Landtages bestimmten Landesregierung. Wenn daher fortan Oppositionsparteien im Landtag der Landesregierung angehörten, dann nur von Gnaden der Christlich-Sozialen beziehungsweise nach 1945 der ÖVP. Ender hatte sich zuvor von einem Beamten des Bundeskanzleramtes versichern lassen, dass diese Innovation des Landes mit der Bundesverfassung konform war. Es sollte 75 Jahre dauern, bis Tirol und Salzburg Vorarlberg folgten und einen ähnlichen Schritt setzten. 
Was die Vorarlberger Sozialdemokraten in ihrer Kränkung über Enders Schritt übersahen, war, dass die Wiener Genossen ähnlich innovativ, wenngleich nicht ganz so brutal wie Ender vorgegangen waren: Sie hatten in die Wiener Stadtregierung, die gleichzeitig Landesregierung ist, zwar auch Angehörige der Christlichsozialen hineingewählt, ihnen aber keine Aufgaben zugewiesen (sogenannte „nichtamtsführende Stadträte“) und sie damit neutralisiert. Auch das war föderalistische Innovation vor 100 Jahren.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.