Kurt Bereuter

56, studierte BWL, Philosophie und Politikwissenschaften. Organisationsberater und -entwickler, freier Journalist und Moderator, betreibt in Alberschwende das Vorholz-Institut für praktische Philosophie.

Die Trägerfrequenz der 68er

Juni 2020

Im Oktober vergangenen Jahres war auf Einladung des Kulturforums Bregenzerwald Bettina Röhl, eine der Töchter der späteren Terroristin Ulrike Meinhof, zu einer Buchvorstellung und einem Gespräch eingeladen. Bettina Röhl, Jahrgang 1962, war mit ihrer Schwester in ein Barackenlager in Sizilien verschleppt worden, bevor sie dann in ein palästinensisches Lager nach Jordanien gebracht werden hätten sollen. Mit „Die RAF hat euch lieb“ hat Bettina Röhl ihr zweites Buch aufgelegt und geht darin nicht nur mit ihrer Mutter hart ins Gericht, sondern gleich mit der gesamten 68er-Bewegung, die es bis heute geschafft habe, einen „Sieg in Permanenz“ davonzutragen. Die Bewegung rolle weiter und finde immer neue Betätigungsfelder, immer neue Imperative. „68“ sei weitergegangen, habe sich angepasst, modifiziert und sich immer neue Themen auf die Fahnen geschrieben. Möglich sei dies durch eine „Trägerfrequenz der 68er“ geworden, die bis heute trage. 

Was meint die Trägerfrequenz der 68er?

Bettina Röhl beschreibt die „68er“ als die erste Generation von jungen Menschen, die die neu gewonnenen Freiheiten nach dem Zweiten Weltkrieg genießen konnten. Aufgewachsen in einer Gesellschaft mit wachsendem Wohlstand, einer unpolitischen Kindheit und Familienurlaub am Meer oder in Österreich. Studieren, Stipendium, Partys feiern, Reisen und sexuelle Freizügigkeit hätten die fortschreitende Liberalisierung in der Gesellschaft geprägt. Zugleich sei aber in diesem Klima auch eine Leere entstanden, die durch das Aufbegehren gegen die Spießigkeit der Elterngeneration und die Konsumkultur ihre Antwort gefunden habe. Und politisch hätten linke Ideologien diese Leere gefüllt und Maos Kulturrevolution und Ho Chi Minhs Kampf seien unkritisch zu ihren Leitidolen geworden, beides Massenmörder, wie Röhl betonte. 
Tatsächlich tut sich manch 68er heute schwer mit dem unreflektierten Skandieren von damals. Und genau an diesem Punkt wirft Röhl dann der damaligen deutschen Politik und den Medien mitsamt der „Kultur“ vor, die Proteste, die Kritik und damit die Leute der APO (Außerparlamentarische Opposition) in ihrer Bedeutung völlig überhöht zu haben. Denn sie sei immer eine Minderheit gewesen, aber eben laut, sichtbar, selbstbewusst und intellektuell dahergekommen. Die Mehrheit wäre immer auf der anderen Seite gewesen und sei ignoriert oder kleingeschrieben worden. Bettina Röhl, so viel wurde beim Gespräch klar, ist reaktionär geworden und Journalistin, nicht Historikerin. Röhl: „Die Generationen von Protestlern kamen und gingen, der Protest verselbständigte sich und blieb – bis heute“, so Röhl, und weiter auf die Politik bezogen: „1998 wurden die 68er mit Gerhard Schröder, Otto Schily und Joschka Fischer Bundesregierung, und dies so lange, bis Angela Merkel sich 2005 an die Spitze der Bewegung setzte und heute die Ziele der 68er und der Grünen umsetzt.“ So eine weitere gewagte Behauptung von Bettina Röhl. 

Von der Selbstkritik zur Demokratie­entwicklung

Auch wenn ich an diesem Abend mehrmals betonte, dass ich in vielen Dingen nicht der Meinung von Frau Röhl bin, gab mir das Gespräch und auch das Buch zu denken. Natürlich interessiert die Sicht einer Frau, die als Kind unter männlichen und weiblichen Terroristen aufgewachsen war, und wie sie mit ihrem Mutterbild zurechtkam und kommt und auch wie sie die einzelnen Persönlichkeiten in diesem Kreis erlebte und beschreibt. Darüber hinaus ist es und bleibt es aber auch eine subjektive „Abrechnung“ mit einer sehr spannenden und teilweise auch tragischen Zeit in Deutschland, die mit der 68er-Bewegung verknüpft ist. Was die Erfolge der 68er anlangt, sind sie für Deutschland oder Österreich erst in den 70er-Jahren durch eine neue Pädagogik, durch ein liberaleres Bildungswesen, aber auch durch eine Demokratieentwicklung sicht- und spürbar geworden, auch wenn es in Österreich schon im Jahre 65 gelang, den (ehemaligen) Nationalsozialisten und Professor an der WU Wien, Taras Borodajkewycz, abzusetzen, nachdem bei Protesten gegen ihn der ehemalige KZ-Häftling Ernst Kirchweger von einem „rechten“ Studenten erschlagen worden war. Im Juli 67 wurde bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen, der, wie wir heute wissen, von der ostdeutschen Stasi eingeschleust war. Aber der Protest gegen den Staat verbreiterte damit die Grundlage, die Sympathie für die Bewegung stieg, und es kam auch zu einer Radikalisierung. Provokation wurde zum Instrument der Sichtbarwerdung und des sich Raumgebens für die Anliegen. Der Springer-Verlag mit der Bildzeitung machte Stimmung gegen die Protestierenden und wurde nach dem Anschlag auf den Studentenführer Rudi Dutschke zum Feindbild der Demonstranten. 20 bis 30 Personen rund um Ulrike Meinhof gingen in den Untergrund und wurden großteils grausame Terroristen der RAF. 
Andere, siehe oben, gingen den friedlichen, demokratischen „Marsch durch oder in die Institutionen“ und waren erfolgreich. Das gilt auch für Österreich. So war unser ehemaliger Bundespräsident Heinz Fischer mit dem nachmaligen Finanzminister Ferdinand Lacina im „Fall von Borodajkewycz“ der Aufdecker und der Kommunikator. Auf der anderen Seite schaffte es Friedhelm Frischenschlager von der FPÖ zum Verteidigungsminister, der dann auch über sein unreflektiertes Verhalten als solcher zurücktreten musste. So ist die Trägerfrequenz der 68er eine, die getragen hat, und für eine Bewertung dieser braucht es mehr Bücher und mehr Auseinandersetzung, als Bettina Röhl bietet. Als Nach-68er haben wir von 68 profitiert, die Demokratie ist eine andere geworden, toleranter, offener und gesprächsbereiter, in der Gesellschaft, in den Medien und in den staatlichen Institutionen. Demokratie braucht außerordentliche Geduld im Zuhören, sagte Neokanzler Willy Brand 1969 bei seiner Antrittsrede, und die haben wir ein gutes Stück weit gelernt.

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