Kurt Bereuter

56, studierte BWL, Philosophie und Politikwissenschaften. Organisationsberater und -entwickler, freier Journalist und Moderator, betreibt in Alberschwende das Vorholz-Institut für praktische Philosophie.

Ein Deserteur auf Abwegen

Dezember 2020

Am 16. März 1943 war ein Vorarlberger Bauer aus dem Bregenzerwald mit seinem Gefährten Friedrich Pietzka im Gebiet Mogilev (Weißrussland) zu russischen Partisanen übergelaufen, nachdem sie unter ihren Wehrmachtskollegen schon davor antinationalsozialistisch agitiert und gleichzeitig Kontakt zu einheimischen Partisanen aufgenommen hatten. Sie hatten die Partisanen mit Munition, Sprengstoff und Granaten unterstützt und das Angebot eines Partisanen angenommen, überzulaufen. Beide ehemalige Wehrmachtssoldaten sind dann in Partisaneneinheiten integriert worden, Friedrich Pietzka wurde sogar Kommandeur der im Dezember 1943 neu gegründeten „Internationalen antifaschistischen Partisanengruppe beim 600. Partisanen-Regiment“ und bekämpfte die deutschen Truppen, die ehemaligen Kameraden in der Deutschen Wehrmacht, die Russland brutal überfallen hatten. Pietzka schrieb, dass sie zu zweit übergelaufen seien, um „ihre“ Wehrmachtsdivision mit Aufrufen und Flugzetteln zu versorgen, um so die „Befreiungsfront“ der österreichischen Soldaten zu vergrößern. Ob und an welchen Kampfhandlungen die beiden Überläufer teilnahmen, geht aus der historischen Forschung nicht hervor. Die beiden renommierten Historiker Stefan Karner und Peter Ruggenthaler schreiben dies in ihrem Aufsatz im Sammelband über „Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges“. Auch, dass sich die Spur des Vorarlberger Bauern Anfang 1945 verliere.
Da es diesen Namen im Bregenzerwald gab, machte ich mich auf die Suche und fand den Bruder des Deserteurs, der mich auch gleich persönlich empfing, er bestätigte mir diese „Geschichte“. Sein Bruder, ein vor und nach dem Krieg überzeugter Kommunist, habe dort Russisch gelernt. Er legte mir auch ein kleines, handgeschriebenes, russisches Taschenbuch mit kyrillischen Buchstaben vor, mit dem der Bruder Vokabeln und Grammatik lernte und auch einen handschriftlichen Zettel von ihm, auf dem russisch geschrieben war. 
Fast sechs Jahre vor diesem Interview, im Jahre 2009, hatte der Österreichische Nationalrat das „Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz“ beschlossen, mit dem in § 4. (1) alle Opfer gerichtlicher Unrechtsentscheidungen im Sinne des § 1, sowie jene, die – ohne deswegen verurteilt worden zu sein – Akte des Widerstandes oder andere gegen das NS-Unrechtsregime gerichtete Akte gesetzt und dadurch etwa als Widerstandskämpfer oder insbesondere als Deserteure durch die bewusste Nichtteilnahme am Krieg an der Seite des nationalsozialistischen Unrechtsregimes oder als sogenannte „Kriegsverräter“ zu dessen Schwächung und Beendigung sowie zur Befreiung Österreichs beigetragen haben, rehabilitiert sind. Im Besonderen ging es darum, dass auch dieser Gruppe (vor allem der Deserteure) „Opferstatus“ mit Entschädigungsanspruch zukam und zugleich es zu einer Pauschalamnestie ohne Einzelfallprüfung erweitert wurde. 
Tatsächlich taten sich nicht nur ehemalige Angehörige der Deutschen Wehrmacht, sondern auch große Teile der Öffentlichkeit schwer, Desertion zu akzeptieren – sogar aus den Streitkräften von Hitlers NS-Staat, die als Angriffsarmee konzipiert war, die Welt in einen schrecklichen Krieg führte, und unzählige brutale Verbrechen in und außerhalb des deutschen Staates zu verantworten hatte. Auch wenn es den im Sinne der Kriegsverbrechen „untadeligen“ Wehrmachtssoldaten gab, sie sogar die Mehrheit stellten, kämpften sie auf der falschen Seite, eben der von Hitler-Deutschland. 
Und so habe auch sein Bruder oftmals unter Beschimpfungen als Verräter gelitten und habe sogar einmal aus einem Gasthaus aus dem Fenster flüchten müssen, weil ihm mit „Aufhängen“ gedroht worden sei. Die Tochter des Vorarlberger Bauern, eine sehr gebildete Frau, erzählte mir dann ein paar Tage später, sie habe von all dem nichts gewusst. Ihr Vater starb, als sie noch ein Kind war und nur einmal sei sie bei einer Gesellschaft in einem Nachbardorf eingeladen gewesen, und da habe sie – sie hatte mittlerweile einen anderen Nachnamen – ein alter Mann auf den Namen ihres Vaters angesprochen, ob sie den gekannt habe? Sie habe das bejaht, ohne ihre Verwandtschaft zu erwähnen, und der alte Mann habe dann über ihren Vater sehr, sehr vehement geschimpft. Er sei „ein Deserteur und Verbrecher“ gewesen – und sie wusste nicht, was Sache war. 
Diesen ehemaligen Kameraden wollte ich dann anrufen, leider war er wenige Tage davor gestorben. Seine Frau erzählte mir noch, dass dieser Mann „sehr Böses getan habe“ und ihr Mann ihm im Wälderbähnle stets aus dem Weg ging. 
Der Bruder des Deserteurs erzählte mir nicht ohne Stolz, dass sein Bruder mit einem Kameraden angesichts eines aussichtslosen Befehls, einen Sturmangriff zu starten, mit mehreren Handgranaten den Bunker, mitsamt den darin befindlichen Soldaten, wohl Offiziere und Unteroffiziere, wie er meinte, gesprengt hätten. Sie hätten dadurch vielen ihrer ehemaligen Kameraden das Leben gerettet. 
Und just in dem Jahr meiner Recherche erschien in Wien von Charlotte Rombach der Band „Österreicher in der Roten Armee 1941 – 1945“, in dem sich der Vorarlberger Bauer, Deserteur und Überläufer wiederfindet: „Dort Mtgl. der Int. Antifasch. Partisanen-Gruppe, ... wurde steckbrieflich gesucht. 50 km hinter der deutschen Linie ‚inspizierten‘ er und andere Rotarmisten (in deutschen Offiziersuniformen) deutsche Bunker, wurde dabei schwer verw…“ 
Waren nun meine Vorurteile anfangs gegen den Kameraden gerichtet, dem ich unterstellte, die Desertion als solches zu verurteilen, ergab sich nun ein neues Bild des Deserteurs und Überläufers. So wurde er beim „Inspizieren“ schwer verwundet, was auf Kampfhandlungen schließen lässt, und andererseits lässt die Sprengung des „Führerbunkers“, wie sein Bruder erzählte, auf militärische Operationen als Partisan schließen und – wenn die Angaben im Buch von Rombach korrekt sind – wird der Deserteur und Überläufer, der Bauer aus dem Bregenzerwald, damit sogar zum Kriegsverbrecher. 
Denn laut Völkerrecht, wie es damals schon beispielsweise im Rahmen der Haager Landkriegsordnung bestand, die auch Deutschland und Österreich 1907 unterzeichneten, war im Artikel 23, f dezidiert der Missbrauch der … militärischen Abzeichen oder der Uniform des Feindes … untersagt. So hat sich nun das Bild des Deserteurs in zwei Facetten gezeigt – aber auch jenes des alten Mannes, der von ihm sprach. 
So richtig und gut die Desertion aus der aggressiven und teilweise kriegsverbrecherischen deutschen Wehrmacht war, so falsch und „inhuman“ war der Verstoß gegen das Kriegsrecht auf der anderen Seite, beim Deserteur und bei den Partisanen. Auch Krieg ist kein gänzlich rechtsfreier Raum, und das ist ein großer Fortschritt in der Menschheitsgeschichte, den wir nicht missen möchten. Der internationale Strafgerichtshof in Den Haag ist genau dafür zuständig.

Kommentare

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Ein zuerst bemerkenswerter Artikel wird zu Leichenfledderei durch dem, wahrscheinlich längst verstorbenen, Deserteur und Ehrenmann in Dreck zu ziehen. Widerlich