Thomas Zerlauth

1968 in Dornbirn, ist tiefenpsychologisch orientierter Markenstratege. Er hat 20 Jahre als Markenentwickler der Luxus-Hotellerie und Gesundheitsbranche gearbeitet. Seine Herangehensweise nennt er „MarkenSprint“. Darunter versteht man ein Strategie-Werkzeug, um Marken aus einer radikal neuen Perspektive zu betrachten und damit zu positionieren.
www.markensprint.com

Viren des Geistes

September 2023

Alles von Menschen Gemachte und alles, was uns letztlich umgibt (Religionen, Nationen, Bildungssysteme, Fußballklubs, Energydrinks oder Elektroautos), hat sich nicht zufällig, genetisch oder auf biologischem Wege verbreitet, sondern, weil sich entsprechende Ideen, Vorstellungen, Verhaltensweisen und Mythen (in Form von Memen und Mem-Komplexen) in den Köpfen der Menschen etablieren ließen. Unsere gesamte Kultur, alles, was uns wichtig und heilig ist, ist das sichtbare Zwischenergebnis dieser memetischen* Evolution.
Millionen von Gedanken, Ideen, Bildern und Informationen wetteifern um unsere heiligsten Güter: Aufmerksamkeit und Gehirnkapazität. Einige davon sind überaus erfolgreich, sie nehmen uns in Beschlag und schaffen es dauerhaft in unseren Geist. Und wenn sie das tun, beauftragen sie uns auf eine geheimnisvolle Weise, diese Informationen zu beheimaten und an geeigneter Stelle weiterzugeben und zu teilen. So wie ein Virus des Geistes, der für seine Verbreitung und die Instrumentalisierung eines neuen Wirtes zu sorgen hat, weil er nur dadurch überleben kann.

Die Ausbreitung
Wenn wir achtsam in die Welt blicken, dann können wir ein feines Gewebe von etablierten Vorstellungen und verwirklichten Träumen erkennen. Dinge und Haltungen, die sich im Wettkampf um Aufmerksamkeit und Glaubwürdigkeit augenscheinlich durchgesetzt haben, weil sie es geschafft haben, von einem Gehirn auf ein nächstes übertragen zu werden.
Dieser Kopiervorgang geschieht in aller Regel unbewusst und automatisch. Dabei setzen sich nicht zwangsläufig die besten, am Gemeinwohl ausgerichteten oder intelligentesten Lösungen, Produkte und Geschichtserzählungen durch, sondern jene, die sich am leichtesten fortbewegen und dadurch viral ausbreiten. Dieser Leichtigkeit der Ausbreitung liegt eine Logik inne, die man erforschen, in weiten Teilen auch erklären und zudem strategisch nutzen kann. Experten wissen heute ziemlich genau darüber Bescheid, welche Informationen sich ausbreiten und wie man mit Worten, Zeichen und Codes ein ausgewähltes Gegenüber zu einer unbewussten Reaktion verführt, die man sich ausgedacht hat. Das ist nichts Außergewöhnliches und auch nichts prinzipiell Schlechtes, weil wir letztlich ja alle diese Zeichenwelten benutzen, wenn wir jemandem beispielsweise eine weiße oder rote Rose schenken. Wir schenken keine Disteln, weil das eine voraussichtlich unerwünschte Reaktion nach sich ziehen würde und wir schenken auch kein Edelweiß, weil sie geschützt sind. Das alles sind Übereinkünfte, die wir gelernt haben und die unser Erfahrungswissen ausmachen.
Manches sind persönliche Erfahrungen (zum Beispiel: greife nicht nach Bienen), anderes kulturelle Überlieferungen (zum Beispiel: hör auf zu trinken, bevor du bei den Gastgebern zusammenbrichst), kollektive Empfindungen (zum Beispiel: der Mensch ist die Krönung der Evolution) oder durch Werbung und Dauerwiederholung etablierte Vorstellungen (zum Beispiel: Milch macht Knochen stark).
Es spielt für die Ausbreitungsgeschwindigkeit und Genauigkeit überhaupt keine Rolle, ob diese Vorstellungen nun wahr und untadelig sind oder durch gut bezahlte Meinungsmacher und als vorsätzliche Lügen in das uns umgebende Kulturgewebe eingeflochten werden. Sie werden – wenn sie richtig gestreut, positioniert und codiert werden – als stille Vereinbarungen in unserem Geist angenommen und breiten sich von dort weiter aus. 

Eine unglaubliche Macht
Codierte Informationen haben eine unglaubliche Macht. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht – Codes und Worte tragen ein gigantisches Erfüllungspotenzial in sich. Worte erzeugen in unserem Kopf Bilder, die uns in die eine oder andere Richtung denken lassen.
Sie manipulieren unsere gesamte Wahrnehmung und entscheiden, wie wir leben, was wir erleben, wie wir fühlen und wovon wir überzeugt sind. Sie sind kleine Bausteine der Wirklichkeit, die wir zumeist unbewusst einsetzen und dabei gar nicht merken, wie sehr sie unsere unmittelbare Wirklichkeit gestalten. Worte sind Vereinbarungen, denn hinter jeder Worthülse verbirgt sich eine Übereinkunft, die wir meist unhinterfragt übernehmen. Viele dieser Vereinbarungen machen unser Leben einfacher, weil wir nicht jedes Mal von Neuem erklären müssen, was ein Tisch ist, wozu man ihn verwenden kann und so weiter. Gleichzeitig sind alle diese Abmachungen vager Natur, weil es nahezu unendliche Formen und Variationen von Tischen gibt, die man für die unterschiedlichsten Dinge verwenden kann. Wir lernen, was wir denken und vor allem, was wir glauben und als Wahrheit akzeptieren sollen. Über Worte werden wir domestiziert und in den großen Traum des Lebens eingeführt, einer letztlich selbst induzierten Traumwelt. Die meisten Menschen fügen sich dem dargebotenen Traum und widersprechen ihm nie. Weil sich Widersprechen erstens nicht gehört und zweitens in den meisten Fällen bestraft wird.
Sobald wir Menschen mit geistigen Inhalten konfrontiert werden, sprich von neuen Geistesviren befallen werden, schafft unser Gehirn neue Verbindungen und installiert Programmanleitungen oder Algorithmen, die sich eignen, um möglichst sicher entscheiden und damit „überleben“ zu können. In diesem „Codierungsvorgang“ werden kollektive oder strategisch platzierte Mythen auf unsere individuelle Festplatte übertragen und fortan als individueller Traum ausgegeben. Vergleichbar mit einer Matrix. 
Ein wesentliches Kennzeichen von Viren ist ihr Drang zur Reproduktion – das ist ihre Kernaufgabe. Ein Virus ist etwas, dass eine externe Kopiervorrichtung benötigt, um Kopien seiner selbst anzulegen und sich dadurch am Leben zu erhalten. Das gilt für Computerviren ebenso wie für biologische und letztlich auch für Viren des Geistes. Während sich Viren durch Tröpfchen, Sex oder Berührung übertragen, werden Geistesviren durch unsere Sprache und Zeichen übertragen. Möglicherweise sogar durch Gedanken, die nur gedacht und gar nicht ausgesprochen werden. Sobald ein Virus entsteht, tendiert er dazu, sich unabhängig von seinem ursprünglichen Schöpfer auszubreiten und so viele Menschen wie möglich zu infizieren.
Inzwischen gibt es eine kaum zu fassende Fülle von Ansteckungsmöglichkeiten, die sich auch kaum mehr kontrollieren lassen. Insbesondere das Internet hat diesen Viren eine neue Dimension eröffnet und ein paradiesisches Milieu geschaffen. 

Das Prinzip
Worte fesseln unsere Aufmerksamkeit und sobald wir diesen Worten Glauben schenken, beginnen wir aus diesen Worten unsere eigenen Glaubenssätze, Überzeugungen und unser Selbst-Narrativ zu bilden. Wir treffen dann eine unbewusste und stille Vereinbarung mit uns selbst, die einer fremden Idee ermöglicht, Besitz von uns zu ergreifen und fortan unser Verhalten zu bestimmen. Genau nach diesem Prinzip funktioniert ein Virus. Er tritt an uns heran, dringt in uns ein oder wird von uns hereingebeten, entfaltet sich in uns und führt dann ein Eigenleben – mit der Bestimmung, sich weiter zu vervielfältigen und in die Welt getragen oder ausgelebt zu werden.
Wir stecken dann unser gesamtes Potenzial und alle unsere Möglichkeiten in diese fremde Meinung, und machen sie zu unserer eigenen. Wir beginnen diese Vorstellungen zu verteidigen und tun alles Mögliche, um sie am Leben zu erhalten. So werden Worte zu einem Bann und mitunter zu einem Fluch, weil wir eine unbewusste Vereinbarung mit einer fremden Ansicht geschlossen haben und wir fortan von diesem Geistesvirus dominiert werden. Sobald wir „Ja“ zu einem fremden Gedanken sagen, hat uns ein Virus in Beschlag genommen und sich unserer bemächtigt. Das Interessante daran? Wir können diese Gedanken nicht einfach anhalten und haben zudem noch nicht verstanden, dass wir nicht unsere Gedanken sind.

* Die Memetik ist eine Forschungsrichtung, in der evolutionäre Prozesse untersucht werden, die bei der Verbreitung und Veränderung von Ideen und anderen kulturellen Konzepten auftreten.

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