Wolfgang Weber

Er etablierte 2003 die Grundlagenlehr­veranstaltung „Politische Bildung“ für Lehramtsstudierende in Geschichte und Sozialkunde an der Universität Innsbruck. Neben der Lehre ist seine Fachexpertise als demokratiepolitischer Bildner auch in Vermittlung und Forschung gefragt, etwa bei Ausstellungsprojekten mit Klassen der Mittelschule Lauterach (2006) und des Bundesgymnasiums Lustenau (2008) und gegenwärtig als Fachexperte im EU-finanzierten Forschungs- und Vermittlungsprojekt „World Class Teacher“ mit Standorten in England, Österreich, Polen und der Slowakei.

Wer war Luise Schelling?

November 2019

Über die Teilhabe von Frauen an der Geschichte der Männer.

„Luise Schellings Biographie ist nicht zu deuten, ohne sie aus der Perspektive des Glaubens, einer tief fundierten Kirchlichkeit und einer gesunden, christlich orientierten Einstellung zu den Werten des Lebens des einzelnen sowie der menschlichen Gemeinschaft zu sehen. Es ist ein Leben, das sich, auf seinen längsten Abschnitt bezogen, dem Dienst an der Kirche widmete.“

Mit diesen Hinweisen begann Pfarrer Felix Zortea seine Grabrede auf die am 4. September 2006 spät abends im städtischen Altersheim von Bludenz im 102. Lebensjahr verstorbenen Luise Schelling. In der Folge rekonstruierte er das Leben einer Vorarlbergerin, welche beinahe das gesamte vom britischen Historiker mit österreichischen Wurzeln Eric Hobsbawm so bezeichnete kurze 20. Jahrhundert durchlebte. Von Hobsbawm stammte auch die Deutung des 20. Jahrhunderts als „das Zeitalter der Extreme“. Die menschlich und politisch härtesten Ausprägungen dieser Extreme, die österreichische und die nationalsozialistische Diktaturen in den Jahren 1933 bis 1945, erlebte Luise Schelling in einer exponierten Stellung – sowohl auf der Seite der Mächtigen als auch auf der Seite der Unterdrückten.
Luise Schelling wurde am 25. Juli 1905 als erstes Kind des Ehepaares Martin Schelling und Klara Flatz in Buch bei Wolfurt geboren und auf den Namen Anna Aloisia getauft. 14 Monate später kam ihr Bruder Georg Peter zur Welt. Buch zählte damals 300 Einwohnerinnen und Einwohner. Lediglich zwei Fuß- und Karrenwege führten aus dem Dorf hinaus beziehungsweise in das Dorf hinein. Eine befestigte Straße, welche das Dorf mit dem industriell prosperierenden Rheintal verbunden hätte, gab es noch weitere 30 Jahre nicht. Die knapp fünf Dutzend Häuser im Dorf waren an kein Stromnetz und keine Kanalisation angeschlossen. Sie waren untereinander lediglich durch Trampelwege verbunden, die weder ausgebaut noch beleuchtet waren.

Seit 1772 gab es in Buch bei Wolfurt eine einklassige Schule. Ein fachlich geprüfter Lehrer kam jedoch erst 1900 ins Dorf. Josef Matt bemühte sich um didaktische Neuerungen, etwa die Verwendung eines Globus, von geografischen Wandkarten, geometrischen Körpern und Setzkästen. Das führte unter Eltern sowie dem örtlichen Pfarrer und Mesner zu großem Unmut. 1905 kündigte Matt daher seine Stelle. Ihm folgte wie in den Jahrhunderten zuvor ein ungeprüfter Hilfslehrer. Als Luise und ihr Bruder Georg in den 1910er Jahren eingeschult wurden, war jedoch mit Karl Bischofberger bereits wieder ein professioneller Pädagoge an der Schule tätig. Ihre Schulkarriere litt jedoch unter den Folgen des Ersten Weltkrieges. Nicht nur die Lehrer wechselten wegen Einberufungen zum Militärdienst häufig, auch der Unterricht fiel oft aus oder er wurde in kriegsrelevante Tätigkeiten, wie das Sammeln von Lebensmittel-Ersatzstoffen, Metall und Papier, eingebunden. 

Die Eltern Schelling stammten zwar aus angesehenen Sippen im Dorf und verfügten über ein großes und gut funktionierendes familiäres Netzwerk. Doch sie hatten beide nie die Möglichkeit, einen Beruf zu erlernen und auszuüben. Vater Martin verdingte sich daher als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter und bemühte sich, als Stückle-Fergger ein zusätzliches Einkommen zu lukrieren. Mutter Klara führte die Nebenerwerbslandwirtschaft und verrichtete textile Heimarbeiten. Die beiden Kinder wurden früh in die Haus- und Hofarbeit eingebunden. In ihren frühen Teenager-Jahren starb der Vater an Krebs. Da Georg Peter zu diesem Zeitpunkt bereits ein Gymnasium besuchte und dort aufgrund seiner Hochbegabung reüssierte, musste Klara an die Stelle des Vaters treten und das Familieneinkommen gemeinsam mit der Mutter sichern. Sie lernte keinen Beruf und war nach der Ausschulung auf Tätigkeiten im Haushalt reduziert. Erst als ihr Bruder 1930 zum Priester geweiht wurde und 1931 seine erste Stelle als Kaplan in Hohenems erhielt, bekam sie eine erste Anstellung: als Haushälterin ihres Bruders. Das blieb sie bis zu dessen Tod im Jahr 1981. Nach der Erkrankung ihrer Mutter an Parkinson übernahm sie zudem noch deren häusliche Pflege und betreute sie im gemeinsamen priesterlichen Haushalt bis zu ihrem Tod 1947.

Neben diesen operativen Aufgaben war Luise Schelling jedoch auch die ideelle Wegbegleiterin ihres Bruders. Die beiden Geschwister fanden im Laufe ihres Lebens zu jener Arbeitsteilung zusammen, welche im patriarchalisch verfassten 20. Jahrhundert erfolgreiche Paarbeziehungen kennzeichnete. Der Mann bediente das Außen, die Frau das Innen. Sie schuf den privaten Regenerationsraum, in dem sich der von der öffentlichen Tätigkeit erschöpfte Mann erholte. Und ihr Bruder Georg Schelling war zumindest zu Beginn seiner Berufslaufbahn eine öffentliche Person. Im Jahr 1934 hatte er auf Wunsch des für Vorarlberg zuständigen Bischofs Sigismund Waitz die Schriftleitung der auflagenstärksten Vor­arlberger Tageszeitung übernommen. Seit der Gründung des „Vorarlberger Volksblattes“ 1866 wurde dieses von einem Priester redaktionell geführt. Es war nicht nur ein Organ der Christlichsozialen Partei, es war vor allem das zentrale Organ im sog. Kulturkampf von Konservativen gegen Liberale – im 19. Jahrhundert ebenso wie im 20. Jahrhundert. Die Konservativen wollten die gesellschaftliche Vormachtstellung der Katholischen Kirche behaupten. Die Liberalen die Gesellschaft öffnen und von der Dominanz der Kirche befreien. Als Georg Schelling die Schriftleitung des Volksblattes übernahm, war der Kulturkampf vor allem gegen die 1933 in Deutschland errichtete NS-Diktatur gerichtet. Mit Hilfe der Dollfuß-Diktatur, auf deren Seite sich die Katholische Kirche in Österreich stellte, sollte der Nationalsozialismus besiegt werden. Gegen ihn schrieb das Volksblatt zwischen 1934 und 1938 unter der Leitung von Georg Schelling heftig an. Nachdem im März 1938 die staatliche Macht in Österreich an die NSDAP übertragen worden war, wurde Schelling daher als Repräsentant der antinationalsozialistischen Dollfuß-Diktatur verhaftet und bis April 1945 im KZ Dachau interniert. In diesen sieben Jahren hielt Luise Schelling den Kontakt zum verschleppten Bruder über Briefe und Lebensmittelpakete aufrecht. Sie organisierte Hilfsaktionen und übermittelte Nachrichten an den Vorarlberger und Tiroler Klerus. Sie war damit Teil jenes katholischen Widerstandes, welcher sich während der NS-Diktatur oft verschämt und konspirativ entfaltete. Der jedoch nie jene öffentliche Wirksamkeit entfaltete, wie sie etwa die Moskauer Deklaration 1943 oder die Opferfürsorge- und Nationalsozialistengesetze ab 1945 einforderten.
Das Carl Lampert-Forum der Katholischen Kirche Vorarlberg stellt sich in der jährlich von ihm organisierten Lampertgedenkwoche im November 2019 der Frage nach dem Katholischen Widerstand während der NS-Diktatur in Vorarlberg, unter anderem mit einer Publikation und einer Ausstellung zu Georg Schelling, der im KZ Dachau als Lagerdekan das Sprachrohr der rund 3000 dort internierten katholischen Priester aus ganz Europa war. In diesem Zusammenhang wird auch Luise Schelling erstmals für die Geschichtsschreibung sichtbar gemacht. Als eine weltliche und engagierte Frau, die ihr Leben „dem Dienst an der Kirche widmete“, wie es in ihrem Nachruf heißt.

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