Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

1918 / 2018 Was wird gefeiert?

November 2018

Im Jahr 1918 hätte sich die Thronbesteigung Kaiser Franz Josefs I. zum 70. Mal gejährt (2. Dezember 1848), jene des deutschen Kaisers Wilhelm II. zum 30. Mal (15. Juni 1888). Robert Musil hat diese Tatsache in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ zum Anlass genommen, die Problematik von Jubiläen ins Visier zu nehmen. Seine Schilderung der einsetzenden „Parallel­aktion“ ist eine der köstlichsten Satiren auf die Jubiläumssucht. Sogleich sehen sich die Österreicher gezwungen, „das ganze Jahr 1918 zu einem Jubiläumsjahr unseres Friedenskaisers auszugestalten“, um zu verhindern, dass „die Deutschen mit ihrer auf Effekt geschulten Methodik“ es schaffen würden, mit ihrem Jubiläum das der Österreicher zu übertreffen, zumal der 2. Dezember (Franz Josef) „durch nichts“ vor den 15. Juni (Wilhelm) gerückt werden konnte. Doch die Frage, was denn da auf welche Weise zu feiern sei, stürzt die beteiligten Kreise, darunter hohe Beamte und Militärs, ehemalige Minister, Industrielle, Philosophen und rätselhafte Zeitungsherausgeber in einen argen Erklärungs- und Gedankennotstand. Verschärft wird die unglaubliche intellektuelle Anstrengung durch das Wissen der Leserinnen und Leser um ihre Vergeblichkeit. Denn im Jahr 1918 war Franz Josef I. schon zwei Jahre tot und Wilhelm II. musste kurz nach seinem Thronjubiläum abdanken, weil der von ihm und seinen Beratern angezettelte Weltkrieg peinlicherweise verloren worden war.

2018 wird in Österreich „100 Jahre Republik Österreich“ gefeiert. Glücklicherweise hat unsere Staatsform bislang die Vorbereitung des Jubiläums einigermaßen unbeschadet überstanden. Was geschah eigentlich damals? Im Herbst des Jahres 1918 überschlugen sich angesichts der militärischen Niederlage Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches die Ereignisse: In Wien wurde, wie Josef Redlich, der ein paar Tage später zum letzten kaiserlichen Finanzminister ernannt werden sollte, lapidar in seinem Tagebuch festhielt, am Nachmittag des 21. Oktobers „von 5 bis 6 Uhr im Landhause der deutsch-österreichische Staat konstituiert“. Der Sozialdemokrat Viktor Adler verlangte die Republik, die Christlichsozialen forderten aber die Monarchie. Das Ganze, so Redlich, sei „ohne rechte Stimmung und salopp“ vor sich gegangen, die Deklarationen seien „matt und leidenschaftslos“ gewesen. In den Kronländern der Monarchie konstituierten sich Nationalräte, in Prag wurde der Kaiser am 28. Oktober für abgesetzt erklärt und die Unabhängigkeit der Tschechoslowakei ausgerufen, in Agram erklärte der dortige Nationalrat die südslawischen Gebiete für unabhängig, am 31. Oktober beschloss der ungarische Nationalrat die Trennung von Österreich beziehungsweise der Habsburger-Dynastie, am selben Tag übergab in Wien der letzte kaiserliche Ministerpräsident Heinrich Lammasch die Regierungsgewalt der provisorischen Staatsregierung, die gerade erst einen Tag zuvor, am 30. Oktober 1918, von einer provisorischen Nationalversammlung eingesetzt worden war. Am 1. November ließ der Kaiser den österreichischen Kronschatz aus der Schatzkammer in der Wiener Hofburg holen, der wenige Tage darauf in die Schweiz gebracht und in den kommenden Jahren von der Familie Habsburg nach und nach verkauft wurde. Am 3. November wurde ein Waffenstillstand mit der Entente und Italien unterzeichnet, dessen unglückliche Umsetzung dazu führte, dass unnötig viele Soldaten Österreich-Ungarns in Gefangenschaft kamen. Hier begann aufgrund mangelnder Versorgung aufs Neue ein großes Sterben. Am 11. November trat das letzte kaiserliche Kabinett, geleitet von Lammasch, zurück und Kaiser Karl selbst verzichtete in einem Manifest auf „jeden Anteil an den Staatsgeschäften“. Am 12. November wurde ein Gesetz über die „Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich“ verabschiedet, das im Artikel 1 formulierte: „Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volke eingesetzt.“ 
Redlich, der erst drei Wochen im Amt war, musste schon wieder zurücktreten. Er schilderte, dass der Rücktritt der letzten kaiserlichen Regierung nicht ohne Verleihung von Orden und Titeln vonstattenging, er selbst wurde zum Geheimrat ernannt. Aber das wichtigste war wohl: „Ich und Seipel wurden in den Ruhestand mit 20.000 Kronen Pension versetzt.“ Die wurde – an die Inflation angepasst – in den kommenden Jahren auch tatsächlich ausbezahlt.
Was wird heute gefeiert? Die Niederlage in einem furchtbaren Weltkrieg, der zumindest von seinem Ende her als dumm, falsch und sinnvoll angesehen werden musste? Die Abdankung und Vertreibung einer Dynastie, deren Schicksal durch die militärische Niederlage und die Auflösung der Monarchie endgültig besiegelt war? Die Gründung einer „demokratischen Republik“, die zu einem „Bestandteil der Deutschen Republik“ erklärt wurde? Geht es überhaupt um die Ereignisse und Erklärungen von damals oder um das, was in den 100 Jahren seither geschehen ist? Das wäre allerdings allzu viel. 

In Vorarlberg feiert man in einem Festakt am 3. November die Tatsache, dass die provisorische Landesversammlung Vorarlberg für selbstständig erklärte. Das macht zwar die Republikgründung nicht nebensächlich, verschiebt aber auf interessante Weise die Perspektive. War es hierzulande wichtiger, dem furchtbaren Tiroler Joch zu entkommen, als die Habsburger loszuwerden und die Republik zu gründen? Nein, natürlich nicht. Das eine hing ja mit dem anderen zusammen. Die eigentliche Frage aber, die schon die Jubiläumstheoretiker des Jahres 1913 in Musils Roman beschäftigte, ist bis heute ungeklärt: Was wird bei einem Jubiläum eigentlich gefeiert? Nicht die Republik selbst, auch nicht ihre gegenwärtigen Repräsentanten. Vermutlich geschieht nichts anderes als bei anderen sozialen Selbstbespiegelungs-Ritualen. Es wird beim Feiern etwas geopfert. Aber was? Zu fürchten ist, dass es sich dabei nur um das eigene Denken handeln kann. Das kann sich von einer runden Jahreszahl offensichtlich leicht verwirren lassen.

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