Eva Niedermair

Redakteurin
Thema Vorarlberg

„Nicht alles, was umstritten ist, ist jenseits des Diskutierbaren“

Februar 2024

Marie-Luisa Frick (40), assoziierte Professorin am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck mahnt im Interview eine bessere Streitkultur ein. Die Tirolerin sagt unter anderem: „Ohne gute Streitkultur werden sich Menschen immer weiter voneinander abschotten, weil es auch emotional zu anstrengend ist, sich mit Diskurs-Rüpeln auseinanderzusetzen.“

Frau Professorin, was zeichnet eine gute Streitkultur aus?
Eine gute Streitkultur zeichnet aus, dass die zugrunde liegende positive Einstellung zur Meinungsvielfalt auch dann nicht zusammenbricht, wenn Meinungen im Einzelfall anstößig oder schwer erträglich sind. Eine gute Streitkultur ist gegeben, wenn Menschen unterschiedlicher Meinung miteinander in Austausch treten und sich nicht aus dem Diskurs zurückziehen oder aus ihm hinausgedrängt werden. 

Und warum ist eine gute Streitkultur gerade in der heutigen Zeit so wichtig?
Streitkultur ist immer wichtig, aber viele Menschen haben gerade in den vergangenen Jahren den Eindruck gewonnen, dass nicht mehr sachlich über bestimmte „heiße Eisen“ gesprochen wird und Andersdenkende oft abschätzig behandelt werden. Ob bei Migration, Klima, Pandemie, Geschlecht oder Nahost, wir können, so meine Überzeugung, unsere Welt und unsere Mitmenschen nur verstehen, wenn wir auf Augenhöhe diskutieren. Und wir können als politisches Gemeinwesen Probleme nur dann lösen, wenn wir aus unterschiedlichen Sichtweisen und Vorschlägen die besten herausfiltern. Dazu aber muss alles auf den Tisch, oder anders gesagt: jeder muss eine Stimme haben.

Welche Rolle spielt Empathie in der Kommunikation, insbesondere wenn es um kontroverse Themen geht? 
Eine entscheidende. Die Welt aus der Position einer anderen Person zu sehen, ist nicht möglich. Aber man kann sich durchaus bemühen. Und darum geht es. Es ist gerade bei heiklen Themen hilfreich, dem Gegenüber zu signalisieren, dass man am Verstehen der anderen Position und nicht einzig und allein am Widerlegen und Entgegnen interessiert ist. Häufig wird aneinander vorbei gestritten, wenn das Bemühen um Verstehen ausbleibt. Ein solcher Streit hat keinen Mehrwert, er führt höchstens zu emotionalen Verletzungen und Verhärtungen in den eigenen Ansichten. In Untersuchungen sagen Menschen, die mit Andersdenkenden debattieren mussten, es sei das Schönste für sie gewesen, dass man einander trotz der Unterschiede respektvoll begegnet ist und dass sie das nicht erwartet hatten. Je unterschiedlicher die Meinungen, desto höher die Dankbarkeit für erwiesenen Respekt. 

Welche Auswirkungen hat eine schlechte Streitkultur auf die Gesellschaft? 
Ohne gute Streitkultur werden sich Menschen immer weiter voneinander abschotten, weil es auch emotional zu anstrengend ist, sich mit Diskurs-Rüpeln auseinanderzusetzen. Damit gehen der Gesellschaft Stimmen verloren, sie wird ärmer. Zugleich verstärkt sich die Lagerbildung, da laute Extrempositionen sich leichter Gehör verschaffen und medial auch besser verbreiten. Die Andersdenkenden sind dann oft bloß eine Karikatur, im schlimmsten Fall Feinde, die man verachten kann und die nicht wirklich dazugehören. Für eine intakte Demokratie sind nicht nur Institutionen wichtig, sondern auch Bürger, die miteinander respektvoll umgehen. Polemik, scharfe Kritik, das darf es natürlich geben, aber man sollte sich vor Feindbildern hüten, und davor, kein gutes Argument und keinen ehrlichen Vermittler auf der anderen Seite mehr gelten lassen. Hier können symbolische Respektbezeugungen auch in harten Auseinandersetzungen sehr viel bewirken. 

Welche Maßnahmen können ergriffen werden, um den Dialog zwischen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zu fördern und dabei konstruktive Ergebnisse zu erzielen?
Menschen brauchen Räume, um sich zu begegnen und auszutauschen. Virtuelle Räume haben bekannte Vorteile, aber auch gewichtige Nachteile, wie etwa die Simulation von Meinungen, Desinformations-Kampagnen und Anonymität. Ich halte es daher aus demokratischer Sicht für wichtig, neben virtuellen Foren auch klassische physische Räume bereitzustellen: Diskussionsabende, Vortragsrunden, Debattierclubs. In solchen Formaten können Menschen im Idealfall am guten Beispiel lernen, wie man mitein­ander umgeht und wie nicht. Es ist daher besonders schade, wenn solche Debattenräume unter Druck geraten, wenn Veranstalter sich zu sehr vor Gegenwind fürchten oder manche meinen, bestimmte Ansichten dürfen gar nicht gehört werden. Das stimmt bei einigen extremen Positionen oder Gewaltaufrufen, aber manchmal scheint mir, uns gehen die Proportionen verloren. Nicht alles, was umstritten ist, ist auch schon jenseits des Diskutierbaren. 

Warum neigen Menschen dazu, sich in polarisierten Positionen zu verhärten?
Zu dieser Frage wird derzeit weltweit von Psychologen, Politologen, Soziologen und Philosophen intensiv geforscht. Es scheinen viele Faktoren zusammenzukommen: Meinungsbildung ist ein sozialer Prozess und unterliegt oft Gruppendenken. Man spricht hier von moderner „Stammesbildung“ oder Tribalismus. Es ist auch schlicht einfacher, in Schwarz und Weiß zu denken, denn dadurch erscheint die Welt weniger kompliziert. Aber sie ist kompliziert und das sollte man sich auch selbst zumuten und zugestehen: Für die großen Probleme unserer Zeit gibt es keine einfachen Antworten. Und niemand ist allwissend und unfehlbar. Auch sollten wir nicht vergessen, dass die besten Gespräche immer noch von Angesicht zu Angesicht geführt werden. Wo Menschen sich zeigen und nicht hinter Pseudonymen verstecken und vielleicht nur jemandes PR erledigen. Und wo viel eher die angesprochene Empathie entstehen kann, die wir so dringend brauchen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Eine längere Version des Interviews findet sich unter wko.at/vlbg/news/start1

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