Wolfgang Greber

* 1970 in Bregenz, Jurist, bei der „Presse“ im Ressort Außenpolitik, Sub-Ressort Weltjournal. Er schreibt auch zu den Themen Technolo­gie, Militärwesen, Raumfahrt und Geschichte.

Eine Leitkultur gibt‘s doch überall

Juni 2024

Seltsam, dass es so schwierig sein kann, eine Leitkultur zu finden, oder zumindest Wörter dafür. Dabei gibt‘s das doch praktisch überall. Wer mit offenen Augen und ohne Ideologiebrille durchs Leben geht, erkennt das auch.

Jetzt sucht man in Österreich also die „Leitkultur“. Die Regierung, primär die ÖVP, lässt Experten darüber brüten, wie die aussieht oder aussehen könnte. Andere finden, so etwas gebe es irgendwie eh nicht, oder dürfe es sogar nicht geben. Und falls doch, so sei schon allein die Suche danach diskriminierend.
Seltsam, wie sich für etwas, von dem man doch eigentlich intuitiv weiß oder wissen könnte, wie es aussieht, so schwer Wörter finden lassen. Das trauen sich viele sogar nicht einmal, halten sich extrem zurück oder reagieren bockig. So wie etwa Michael Köhlmeier, unser hochgeschätzter, in Hohenems lebender Sprachkünstler. In Interviews fragte er rhetorisch, was Leitkultur überhaupt sein solle, nannte es gar einen „dummen Begriff“. Wenn schon, dann gehe es um die Rechtsordnung, die Gesetze, wo alles dazu drinstehe. „Kein Mensch will in seiner kulturellen Vorstellung geleitet werden“, meint er.
Nun ja, dummer Begriff, man kann das apodiktisch so sehen, muss aber nicht. Geprägt hat ihn in den 90ern der deutsch-syrische Politologe und Sozialwissenschaftler Bassam Tibi (*1944), der damit indes eine europäische Leitkultur als Gesamtheit der westlich-liberalen Werte der Moderne in ihren Manifestationen wie Demokratie, Menschenrechte, rationales Denken, Wert von Naturwissenschaften und Nachrang des Religiösen umschrieb, und zwar auch (nicht exklusiv) als Richtlinie für Migranten, als gesamtsoziale Klammer. Natürlich ist das dann in Deutschland in einer dort typischen Debatte zwischen den Extrempolen Deutschtum und Dauerschuldgefühl zerfasert, lassen wir das. Aber dass just ein gebürtiger Damaszener und Muslim Europa wieder erklären muss, was es eigentlich ist, dass er hier den Islamismus einsickern sah und dass sich gewisse Probleme mit gewissen Gruppen anbahnen dürften, ist bemerkenswert und im Grunde für Europäer peinlich. Das als „dumm“ abzukanzeln, ist unklug.
Dass niemand in seiner kulturellen Vorstellung „geleitet“ werden wolle, mag stimmen. Aber sorry: Es geht nicht nur ums Wollen. Beim Zusammenleben geht es auch ums Sollen und Müssen, um Empfehlungen und Tipps zumindest, und wie verschiedenes Wollen nicht zusammenkracht. Diese Dinge erschöpfen sich nicht nur in Gesetzen, das ist ein juristischer Reduktionismus, der zwar recht weit greift, aber doch zu kurz. Eine Gesellschaft hält mehr zusammen als bloß das Einhalten von Rechtsnormen. Etwa die verbreitetsten Sitten (von denen viele in Recht gegossen sind), dazu optimalerweise Respekt, Neugier, Hilfsbereitschaft, soziale Pflichten, Vertrauen über Verwandtschaften hinweg, Toleranz, Einander-in-Ruhe-Lassen, Eigenverantwortung, Tatkraft, Kreativität, das Wissen um Grenzen und was nicht geht, und wofür/wogegen es sich zu kämpfen lohnt. Wenn’s nicht so platt klänge, würde ich sagen, zumindest im Vorarlberger Bezugsrahmen geht es ums G’hörig-Si.
Wieso soll eine Leitkultur so schwer zu erkennen sein? Dabei geht’s bloß um so etwas wie die Hausordnung, übergreifende rechtliche und soziale Kodizes, ergänzt um die historisch begründet häufigste Lebensweise, die lokale, oft dauerhafteste Architektur des Seins, nüchtern gesagt „Hauptkultur“. Und da geht es weniger (nicht aber nicht!) um bunte Details wie Ostern, Martini, Weihnachten, Käsknöpfle, Heurige, Bier, Biken, Bergsport, Bikinis, Vorarlberger Holzarchitektur und Funken, sondern um die Staats-, Rechts- und die Alltagskultur von Leben, Denken, Ordnen, Sauberhalten, Forschen, Bauen, Genießen, Sich-Freuen, Miteinanderumgehen, Einanderaushalten, und wie man die Dinge halt anpackt und wie besser nicht. Das muss man nicht so akademisch-ideologisch zerdenken, das lenkt doch vom Sehen ab.
Es ist auch wie die Straßenverkehrsordnung auf unseren Lebenswegen samt Bauweise und Gestaltung von Verkehrsflächen und nahem Umland. Jessas, man könnte auch Gleitkultur sagen, also die Art und Weise, wie die Dinge des Lebens auf den Wegen dahingleiten. Vieles stellt sich mit der Zeit von selbst ein, oft auch zumindest von der Mehrheit getragen, manches muss man erst bauen. Es sollte reibungsarm vor sich gehen, was nicht immer der Fall ist.
Leitkultur gibt’s doch überall! Wer die Welt offenen Sinnes bereist, kann sie sehen, hören, lesen, riechen, spüren, ahnen, ob in Frankreich, Finnland, Serbien, Ägypten, Marokko, Ghana, Mexiko, Thailand, China, Fidschi, der Türkei, und wenn’s nur regional ist, eine fraktionsübergreifende Gemeinsamkeit oder das Eis auf dem Wasser. Sie muss nicht ganz homogen sein, viele sind vielschichtig. Die Bestandteile sollten einander halt aushalten. Kleine bis mittelgroße Städte eignen sich für die Suche übrigens oft besser als Hauptstädte oder Megacitys.
Man gehe einen Tag durch Assuan, Biserta, Nîmes, Örebro, Isfahan, Kapstadt, Punta Arenas, Latacunga, Hobart, Avarua, durch Rankweil, Innsbruck, Smolensk oder sonst wo zwischen der Pampa, der Provence, Anatolien, der Kalahari, der Gangesebene, Sumatra und Hokkaido, und man ahnt, was gemeint ist. Der Unterschied zwischen Hohenems und Ho-Chi-Minh-Stadt, dem Bregenzerwald und Berg-Karabach, Österreich und Osttimor ist evident, oder?
Wenn nicht, so kann das an einer Blindheit liegen, die mehr ein Nichtsehenwollen ist. Insbesondere bei Intellektuellen kann so eine Alltagsbetriebsblindheit vorkommen. Manchmal korreliert sie mit einer Geringschätzung des Eigenen, Hiesigen, Autochthonen, was seinen guten Grund haben kann, aber nicht zur starren Haltung verkommen sollte. Aus anderen Weltgegenden kommen viele nach Europa, die offenbar eine recht klare Vorstellung von ihrer Kultur haben, und treffen auf eine Bevölkerung, wo zumindest in Teilen davon schamvoll darüber debattiert wird, wer, was und wie man eigentlich sei und was nicht. Wieso dieses defizitäre Selbstbild? Ist das Selbstbewusstsein unserer Gesellschaft so dünn wie Papier geworden?
Wie man die jeweilige Leit-/Hauptkultur bewertet, ob man sie mag, ist eine andere Frage. Sie für Österreich (oder Vorarlberg) zu beschreiben, mag zwar wie der Versuch sein, Schaum an die Wand zu nageln. Aber in der Hand halten, begreifen also, kann man ihn schon. Vielleicht fehlt manchen halt das Gespür dafür.

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