Matthias Sutter

*1968 in Hard, arbeitet auf dem Gebiet der experimentellen Wirtschaftsforschung und Verhaltensökonomik, ist Direktor am Max Planck Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn und lehrt an den Universitäten Köln und Innsbruck. Der Harder war davor auch an der Universität Göteborg und am European University Institute (EUI) in Florenz tätig.

über das Erstarken populistischer Parteien

November 2025

In einer repräsentativen Demokratie vertreten die gewählten Mandatsträger die Interessen ihrer Bürger. Soweit die Theorie. In der Praxis können Welten zwischen dem liegen, was Politiker gut finden, und dem, was die Bevölkerung eigentlich haben möchte. Dieses Phänomen ist seit den frühen 2000er-Jahren europaweit zu beobachten. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer, wenn man verstehen will, warum mehr und mehr populistische Parteien erfolgreich sind.

Viele Menschen fragen sich, wie es geschehen konnte, dass Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden konnte. Diesen Menschen ist es auch ein Rätsel, wie innerhalb Europas in den letzten zehn Jahren Politiker und Parteien wie Giorgia Meloni in Italien, die Schwedendemokraten in Schweden oder die AfD in Deutschland so erfolgreich werden konnten; gar nicht zu reden von den Wahlerfolgen der FPÖ in Österreich. Schließlich wären diese Parteien und Politiker – so die Argumentationsweise von solchen Menschen – eigentlich nichts anderes als Bauernfänger, die die vermeintlich ungebildeten und sich als abgehängt fühlenden Wähler in den jeweiligen Ländern mit billigen Parolen hinters Licht führen würden, um deren Stimme bei Wahlen zu erhalten.
Natürlich kann man sich das Leben leicht machen und so argumentieren. Dann muss man auch nicht nach den tieferen Ursachen für das Erstarken konservativer – manche würden sagen: rechtsgerichteter – Parteien suchen. Und man kann sich weiter in der falschen Gewissheit wiegen, dass die fehlgeleiteten Wähler schon irgendwann wieder auf den Pfad der (politischen) Tugend zurückkehren würden, wenn man sie nur „abholen“, ihnen die Politik der links stehenden Parteien „besser erklären“ und die rechtspopulistischen Parteien „mit Argumenten stellen“ würde.
Interessanterweise klappt dieser Ansatz aber in den vergangenen zehn Jahren immer weniger. Ganz im Gegenteil, das politische Pendel schlägt in fast ganz Europa (und bekanntermaßen auch in den USA) wieder stärker nach rechts aus. Wenn man eine solche Entwicklung beklagt, dann lohnt es sich also vielleicht doch, ein bisschen genauer hinzuschauen, was die Ursachen sein könnten.
Laurenz Günther von der Bocconi Universität in Mailand hat dazu kürzlich eine sehr aufschlussreiche Studie durchgeführt. Günther hat Umfragedaten von repräsentativen Stichproben aus den 27 EU-Mitgliedstaaten zu politischen und wirtschaftlichen Fragen ausgewertet. Im Hinblick auf die Wirtschaft ging es beispielsweise um Fragen, wie stark das Ausmaß an Umverteilung (durch Sozialtransfers) in einem Staat sein sollte, ob der Staat stärker oder weniger stark in den Wirtschaftsprozess eingreifen sollte oder ob mehr Unternehmen unter staatlicher Kontrolle gestellt werden sollten. Im politischen Bereich drehten sich die Fragen zum Beispiel darum, ob Straftäter stärker oder milder bestraft werden sollten, ob sich Einwanderer an die Kultur ihrer neuen Umgebung anpassen sollten oder ob es mehr oder weniger Immigration geben sollte.
Die Studie von Günther zeichnet sich dadurch aus, dass er zu denselben Fragen auch die Einstellungen von Parlamentsabgeordneten in den 27 EU-Ländern und auch im Europäischen Parlament erhoben hat. Damit ist es möglich, dass man einen Vergleich der Verteilung der Einstellungen zieht, und zwar zwischen der jeweiligen Bevölkerung und den sie vertretenden Politikern. In der Theorie sollten beide Verteilungen in einer repräsentativen Demokratie einigermaßen gleich sein, weil die Idee der Repräsentation darin besteht (trotz des Konzepts des freien Mandats), dass gewählte Vertreter im Wesentlichen die Interessen ihrer Wähler vertreten.
Die Studie von Günther bezieht sich auf den Zeitraum um das Jahr 2010 herum (je nachdem, wann in den einzelnen Ländern die Parlamentswahlen um diesen Zeitraum herum stattfanden). Das Ergebnis seines Vergleichs der Einstellungen von Parlamentariern und der Bevölkerung ist bemerkenswert: Im wirtschaftlichen Bereich passen die Verteilungen der Einstellungen sehr gut zusammen. Mit anderen Worten: In den Parlamenten spiegeln sich die wirtschaftlichen Vorstellungen der Bevölkerung sehr gut wider. Im politischen Bereich – den Günther auch als kulturelle Dimension bezeichnet – sind die Unterschiede aber krass. 
Die Parlamentarier sind um Welten „liberaler“ eingestellt als die Bevölkerung und die Verteilungen der Einstellungen passen in vielen Bereichen überhaupt nicht zusammen. Mit „liberaler“ ist dabei gemeint, dass die Parlamentarier (in beinahe allen EU-Ländern um das Jahr 2010 herum) systematisch mehr Immigration unterstützten, weniger Assimilation von Immigranten erwarteten und deutlich mildere Strafen für Straftäter befürworteten. Um den Unterschied mit einem Vergleich zu verdeutlichen: Die Vorlieben der Bevölkerung unterscheiden sich von jenen der Parlamentarier wie die Vorlieben eines konservativen Politikers von jenen eines Kommunisten.
Was ist die Schlussfolgerung aus diesen Ergebnissen? Es gab vor etwa zehn bis fünfzehn Jahren eine enorme politische Repräsentationslücke, weil die Einstellungen der Bevölkerung sich nicht mehr in den Vorstellungen der Parlamentarier (in praktisch allen EU-Staaten) widerspiegelten. 
Das Einmaleins der Politikwissenschaft macht aber eine ganz klare Prognose darüber, was in einem solchen Fall passieren wird: Es werden sich politische Parteien und Bewegungen bilden, die genau diese Lücke füllen werden, weil es ein großes Reservoir an Wählern gibt, die sich nicht mehr von ihren Parlamentariern vertreten fühlen. Und genau so ist es gekommen. Das hat aber nichts mit „ungebildeten“ oder „abgehängten“ Menschen zu tun, sondern damit, dass ein wesentlicher Teil der politischen Vorstellungen in der Bevölkerung lange Zeit kein Sprachrohr mehr hatte. Man mag zur Entwicklung der vergangenen zehn Jahre in Europa (und den USA) stehen, wie man will, aber ganz überraschend kam sie nicht – außer man argumentiert so, wie ich es in den ersten beiden Absätzen beschrieben habe.

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