
Putins ultimative Ziele
Sarah Pagung (32), Russland-Expertin der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“, spricht im Thema-Vorarlberg-Interview über die Hintergründe der russischen Invasion in der Ukraine. „Eindrücklich“ warnt die deutsche Politikwissenschaftlerin davor, die Frage nur auf die NATO zu reduzieren: „Zu viel ist mit der Ukraine-Frage verbunden.“ Dieses Interview wurde am 28. Februar geführt.
Frau Pagung, Putin versetzte zuletzt die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft, längst vergessen geglaubte Ängste kehren zurück …
Die russische Drohung ist in erster Linie eine Botschaft an den Westen, sich nicht zu sehr einzumischen. Allerdings waren diese Politik und diese Mechanismen der nuklearen Abschreckung auch in den vergangenen 30 Jahren aktiv. Sie hatten nur öffentlich überhaupt keine Beachtung gefunden und waren den meisten Menschen daher auch nicht bewusst. Erst dieser Krieg hat das, was immer da war, wieder ins Rampenlicht gerückt.
Mit aller Vorsicht zum derzeitigen Zeitpunkt gefragt: Kann sich dieser Krieg über die Ukraine hinaus ausweiten, gar auf Europa übergreifen?
Ich würde sagen, dass das Risiko eines Konflikts zwischen Russland und der NATO so hoch ist, wie seit 30 Jahren nicht mehr. Und dennoch ist dieses Risiko nach wie vor sehr gering. Dafür sorgt die Schutzfunktion der NATO. Laut Artikel 5 ist ein Angriff auf ein Mitglied der NATO wie ein Angriff auf alle anderen zu werten. Angesichts der potenziellen Größe, die ein solcher Krieg annehmen könnte, hat auch keine Seite Interesse an einer Ausweitung des Konflikts. Dennoch besteht eine Gefahr, die wir nicht unterschätzen dürfen.
Welche Gefahr?
Dass es zu unbeabsichtigten Eskalationen kommt. Dass es beispielsweise bei Waffenlieferungen europäischer Staaten an die Ukraine zu einem Angriff auf die Lieferungen kommt, oder dass russische Flugzeuge in den europäischen Luftraum eindringen. Das sind die Sachen, über die ich mir momentan Sorgen mache.
Warum hat Putin die Situation jetzt derart eskaliert? Warum hat die Situation derart an Dramatik zugenommen?
Das Ausmaß der Eskalation hat jetzt sehr deutlich gemacht, dass Putin das Narrativ, das er von der Ukraine und den Ukrainern schon länger hatte – das Narrativ eines nicht eigenständigen Staates und eines nicht eigenständigen Volkes – mit allen Mitteln durchsetzen will. Was zuvor nur als verbale Rechtfertigungsstrategie für sicherheitspolitische Einflusszonen galt, muss jetzt als Ziel Moskaus anerkannt werden. Es gibt aber auch weitere Gründe dieser Eskalation.
Welche?
Zum einen waren die Beziehungen Moskaus mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj nach anfänglich gutem Beginn wieder sehr schlecht. Zum anderen hatte Putin nach den gewonnenen Parlamentswahlen innenpolitisch sehr viel Spielraum gewonnen. Er hat auch ausgenutzt, dass Europa und die USA in ganz vielen Bereichen sehr stark mit sich selbst beschäftigt waren. Und ein sehr wichtiger Grund: Die Russen hatten erkannt, dass sie die Ziele, die sie in der Ukraine haben, politisch-diplomatisch nicht umsetzen können. Sie konnten ihre Interpretation des Abkommens Minsk II nicht verwirklichen.
Dieses Abkommen hätte eigentlich den Weg zu einer Friedenslösung für die Ostukraine bereiten sollen …
Das Abkommen zeigte die Konfliktlinie sehr gut: In der ukrainischen, auch in der europäischen Interpretation war Minsk II ein Instrument zur Sicherung ukrainischer Souveränität, sowohl außen- als auch innenpolitisch. In der russischen Interpretation war das Abkommen dagegen ein Instrument zur Begrenzung der ukrainischen Souveränität. Minsk II macht deutlich: Auch wenn die Regelungen noch so detailliert sind, man kann diesen grundsätzlichen Konflikt nicht wegregeln. Zu unterschiedlich waren und sind die Vorstellungen beider Seiten. So wird auch eine Zusicherung, dass die Ukraine niemals NATO-Mitglied wird, den Konflikt nicht lösen. Ich warne eindrücklich: Man darf die Frage nicht auf die NATO verengen. Es geht um weit mehr, es geht um politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen, es geht um die prinzipielle Orientierung der Ukraine. Die Entscheidung, in welche Richtung die Ukraine geht, ob sie sich dem Westen oder dem Osten zuwendet, ist für die europäische Sicherheitsordnung sehr bedeutsam.
Um was geht es denn wirklich in diesem Krieg?
Es sind unterschiedliche Ebenen. Eine dieser Ebenen ist, dass die Russen westlichen Einfluss vor allem auch in Form von Truppen oder in Form einer Stationierung von militärischem Equipment in der Ukraine verhindern wollen. Die Russen wollen die Verteidigungslinie von der eigenen Grenze wegschieben. Gleichzeitig will Moskau aber auch seinen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einfluss in der Ukraine wahren und den westlichen Einfluss entsprechend zurückdrängen. Zudem will Russland, was die europäische Sicherheitsordnung betrifft, weg von der regelbasierten Ordnung, hin zu einem neuen transnationalen Verständnis. Russland will den großen Staaten diktieren, wie die künftige Sicherheitspolitik in Europa auszusehen hat. Und schließlich geht es um das Verhältnis zwischen Moskau und Washington: Russland will die USA sukzessive aus Europa hinausdrängen, um die eigene Machtposition zu vergrößern.
Nochmals zur NATO. Sie sagen, man dürfe die Frage nicht auf die NATO verengen. Russland hat aber immer wieder erklärt, die Expansion der NATO seit dem Zerfall der Sowjetunion verletze Absprachen, die NATO habe damit gegen Zusagen von 1990 verstoßen …
Die NATO ist nur ein Teil des Konflikts, aber noch nicht einmal der Hauptteil. Aber lassen Sie mich kurz erklären, warum es da in der Tat nicht nur um die NATO geht. Erstens: Russland hat in den 1990ern mehrfach gültige, offizielle Abkommen unterschrieben, die diesen Absprachen – auch wenn sie stattgefunden hätten – widersprochen haben: Die Charta von Paris, das Budapester Memorandum, auch die NATO-Russland-Grundakte. Man muss die Russen also an dem festnageln, was sie völkerrechtlich zugesichert haben. Irgendwelche Hinterzimmer-Gespräche können natürlich niemals die Gültigkeit und Legitimität dieser offiziellen, unterschriebenen Abkommen haben. Zweitens: 2014 hatte das von der Ukraine geplante EU-Assoziierungsabkommen – und nicht die NATO – zur ersten russischen Invasion in der Ukraine geführt. Erst in Folge dieser Invasion hat die Ukraine das zuvor in ihrer Verfassung verankerte Neutralitätsgebot aufgegeben und die Westintegration als Ziel angegeben. Die jetzt von Russland geforderte Neutralität gab es also in der Ukraine, sie hat aber nicht zu einer Befriedung des Konflikts geführt.
Der Konflikt, der nun in einen Krieg mündete, begann vor knapp einem Jahrzehnt …
Die Ursache des Konfliktes der Jahre 2013 und 2014 ist innenpolitisch in der Ukraine zu suchen. Janukowytsch, der damalige ukrainische Präsident, hatte den Menschen über Jahre hinweg die EU-Integration versprochen. Doch Janukowytsch, Ausdruck eines korrupten Regimes, nahm auf Druck von Moskau quasi in letzter Minute Abstand von dem, was die Menschen so lange erwartet hatten. Demonstrationen, die sich gegen die eigene Regierung richteten, waren die Folge. Aber sie mündeten letztlich in einem sehr stark geopolitisch aufgeladenen Konflikt.
Das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine ist schwer belastet, historisch gesehen …
Ja und nein. Umfragen zeigen, dass sich die Menschen in der Ukraine und in Russland kulturell, gesellschaftlich, aber auch historisch eng verbunden sehen. Aber natürlich müssen wir auch sehen, dass sich die Bevölkerung in der Ukraine insbesondere in den Jahren seit 2014 aufgrund der Annexion der Krim und des Krieges im Donbass immer weiter vom russischen Staat und von der russischen Politik entfernt hat. Der Konflikt 2014 hatte die Ukrainer bereits stärker zu einer Einheit werden lassen, die jetzige russische Invasion trägt zur ukrainischen Nationenbildung nochmals in immensem Ausmaß bei. All die Konfliktlinien, die es zuvor innerhalb der Ukraine gegeben hatte – sie sind jetzt wie weggewischt. Die Invasion in der Ukraine löst das Gegenteil dessen aus, was die russische Seite, die eine Nation Ukraine stets negiert hatte, je für möglich gehalten hatte. Das Streben nach Westen wird immer stärker werden.
Putin sagt, er wolle die Ukraine „entnazifizieren“. Was hat es damit auf sich?
Das zentrale russische Narrativ, das russische Medien seit 2014 streuen und das sich immer wieder in Reden russischer Offizieller findet, ist folgendes: In der Ukraine ist eine faschistische Regierung an der Macht, die Russen diskriminiert und an ihnen sogar einen Völkermord im Donbass begeht. Das entbehrt natürlich jeglicher Grundlage; ist an Zynismus nicht zu überbieten. Aber es ist das zentrale Rechtfertigungssystem, das Russland für diesen Krieg hat.
Ist das, was da in der Ukraine passiert, auch ein Krieg der Worte und der Desinformation?
Wir sehen in den vergangenen Wochen, dass es ganz klar auch darum ging, das eigene Narrativ und die eigene Interpretation in die Welt zu setzen. Das russische Bemühen, einen Kriegsvorwand aufzubauen und damit ein mögliches Eingreifen zu rechtfertigen, war deutlich sichtbar.
Der springende Punkt: Was will Putin?
Putin will das, was er sagt. Die Russen und insbesondere Putin sagen sehr häufig sehr genau, was sie wollen. Man macht in der Russland-Debatte aber des Öfteren den Fehler, nicht auf das zu achten, was eigentlich sehr deutlich gesagt wird. Und die Forderungen in jenem Papier, das Moskau im Dezember für die NATO und die USA veröffentlicht hat, waren sehr eindeutig: Der Verzicht auf künftige Erweiterungen der NATO. Die Reduktion der militärischen Infrastruktur. Und insbesondere die Auflösung der Ukraine als souveräner Staat.
Will Putin die Sowjetunion wiederherstellen, wie US-Präsident Biden sagte?
Ja und Nein. Die Analogie zur Sowjetunion lässt sich in der Öffentlichkeit natürlich gut darstellen, weil sie für die Menschen verständlich ist. Nur stimmt das so nicht: Die baltischen Staaten, auch andere, sind mittlerweile in der NATO, Russland hat auch nichts mehr mit den einstigen kommunistischen Strukturen zu tun. Russland will also nicht die Wiederherstellung der Sowjetunion, Russland will die Wiederherstellung des Großmachtanspruchs – und zwar im postsowjetischen Raum, regional in Europa und global. Putin hat eine andere Form der Rationalität, eine andere Form der Kosten-Nutzen-Rechnung: Seine ultimativen Ziele sind die Wiederherstellung des Großmachtstatus Russlands und die Absicherung der eigenen Macht innerhalb von Russland. Diesen Zielen ordnet er alles unter. Wenn wir das verstehen, verstehen wir auch, was Putin treibt.
Putin unterscheidet sich von den Staatsmännern des Westens in erheblichem Ausmaß …
Putin ist ein sehr autoritärer Herrscher, der nicht von der Macht lassen kann. Er ist seit 22 Jahren an der Macht. Putin hat ein anderes Staatsverständnis, in dem Sinne, dass er staatliche und nationale Sicherheit mit seiner Sicherheit und der Sicherheit seiner herrschenden Clique gleichsetzt. Als Kopf eines sehr korrupten Systems, reich geworden durch dieses System, hat Putin das Problem, dass er nur sehr schwer abtreten kann, ohne Gefahr zu laufen, alles zu verlieren. Das unterscheidet Putin von westlichen Regierungschefs.
Ist das schwache Europa in jedem Fall auf die USA angewiesen?
Ja und nein. Sicherheitspolitisch sicherlich. Den Europäern fällt es nun auf den Kopf, dass die meisten Staaten jahrelang nicht genug in ihre eigene Sicherheitspolitik, in ihre eigene Verteidigung investiert haben. Umso wichtiger ist jetzt der Aufbruch, der sich in Europa abzeichnet: Waffenlieferungen, verstärkte Rüstungsinvestitionen und vor allem eine Anerkennung der sicherheitspolitischen Realitäten. Es ist zu hoffen, dass das europäische Trittbrettfahrertum nun ein Ende hat. Aber: Europa hat eine sehr große wirtschaftliche Macht. In Bezug auf die Sanktionen hat Europa sehr gute Karten, wie sich in der aktuellen Sanktionspolitik zeigt.
Was ist von den Sanktionen prinzipiell zu halten?
Grundsätzlich wird dann zu Sanktionen gegriffen, wenn militärisches Eingreifen nicht gewollt, nicht gewünscht, nicht beabsichtigt ist, man aber dennoch etwas tun möchte. Aber ich bin, das muss ich auch sagen, positiv überrascht von der Entschlossenheit, mit der gerade die EU reagiert hat. Denn es sind ja nicht nur die Sanktionen selbst, etwa gegen die russische Staatsbank, die wir sehen müssen; es werden auch weitere wirtschaftliche Effekte folgen. Unternehmen wollen raus aus Russland, weil das wirtschaftliche und finanzielle Risiko einfach unkalkulierbar geworden ist.
Werden beide Seiten diese Sanktionen stark spüren? Immerhin ist Europa von den russischen Öl- und Gaslieferungen abhängig, Russland ist aber auch bedeutender Exporteur von Weizen, von Aluminium, Nickel, Titanium. Das sind starke Druckmittel …
Wir müssen abwarten, welche Gegensanktionen Russland ergreift. Es gibt bestimmte Bereiche, in denen russische Rohstoffe wichtig sind, Sie haben das ja genannt. Aber grundsätzlich gilt: Die wirtschaftliche Übermacht des Westens ist enorm. Russland ist zu einem deutlich höheren Ausmaß vom Westen abhängig, als das umgekehrt der Fall ist. Russland kann das mittelfristig nicht durchhalten. Natürlich wird es auch Auswirkungen auf Europa und auf Nordamerika geben, da sollten wir uns keine Illusionen machen. Aber wir sollten auch ein realistisches Bild von der enormen wirtschaftlichen Übermacht des Westens gegenüber Russland haben und zwar in allen Bereichen. Und zwar auch, wenn Russland jetzt als Gegensanktion Gaslieferungen stoppen würde, oder den Export von Aluminium oder Nickel. Denn das würde die wirtschaftliche Krise von Russland ja nochmals verstärken, wären im Grunde genommen doch die einzigen wirklichen Einnahmequellen des Landes betroffen. Die wirtschaftliche Bedeutung Russlands für Europa wird in der öffentlichen Debatte häufig viel größer dargestellt, als sie in Wirklichkeit ist. Sanktionen im Gasbereich wären für einige Länder trotzdem sehr schwierig. Deutschland, man muss es in aller Deutlichkeit sagen, hat es beispielsweise schlichtweg verpennt, im Erdgas-Bereich die Abhängigkeit von Russland zu reduzieren. Man hat sich mit mangelnden Regularien, etwa für Gasspeicher, zu sehr von den Russen abhängig gemacht, ohne auch nur ein Mindestmaß an Sicherheit zu schaffen.
Besteht nach dieser Aggression, nach dieser Eskalation überhaupt noch die Chance auf Gespräche in nächster Zeit?
Dafür fehlt mir ein bisschen die Fantasie. Russland war schon zuvor nicht kompromissbereit. Und die Chance, dass der Westen jetzt noch zu einem größeren Kompromiss bereit ist, ist äußerst klein. Es mag noch eine Chance auf Verhandlungen über den Stopp der Kampfhandlungen in der Ukraine geben, ein Stück weit würde sich der Westen darauf vermutlich einlassen. Aber die Russen? Das ist nicht das, was sie wollen. Und die Ukrainer? Auch das ist sehr fraglich. Wir haben in den letzten Tagen eine Form des Widerstands gesehen, der in seiner Absolutheit und in seinem Trotz einem ja wirklich Respekt abnötigt.
Die Ukraine wird Spielball zwischen Ost und West bleiben?
Ja, das fürchte ich. Am Fall der Ukraine wird die künftige Sicherheitsordnung Europas verhandelt. Die Ukraine hat weder militärisch noch wirtschaftlich die Macht, ihr Schicksal selbst zu bestimmen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Sarah Pagung
die Politikwissenschaftlerin (32) ist seit Februar 2019 Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Inhaltlich arbeitet Sarah Pagung, die in der aktuellen Ukraine-Krise eine gefragte Interviewpartnerin deutscher Medien ist, vor allem zu russischer Außen- und Sicherheitspolitik.
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