„Die Attraktivität des großen Verdachts“
Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (49), Professor an der Universität Tübingen, schreibt in seinem aktuellen Buch „Die große Gereiztheit“, dass die indiskreten Medien der Gegenwart die Luft der Epoche geändert hätten.
„Das Banale, das Bestialische, das Berührende, die schreckliche Nachricht und die gute Nachricht“, all das werde in der heutigen Zeit in Echtzeit sichtbar.
Ein Gespräch über Pörksens Utopie einer redaktionellen Gesellschaft, in der Maximen des guten Journalismus zu einem Element der Allgemeinbildung werden.
Sie stellen in Ihrem Buch die Frage, ob das Netz „ideologische Selbstversiegelung“ begünstige. Wie lautet denn die Antwort, Herr Professor?
Das Netz ist ein ungeheuer plastisches, aus meiner Sicht fantastisches Medium, das uns in eine Welt des Informationsreichtums hineinkatapultiert hat, von der ich als Wissenschaftler jeden Tag profitiere. Das Netz ist aber auch ein Medium, das unserer allgemeinmenschlichen Bestätigungssehnsucht sehr weit entgegenkommt. Man kann sich ohne Reibung mit der Agenda der Allgemeinheit seine Plattformen suchen, seine Experten, seine Belege auch für den exklusiven Irrsinn. Und das erzeugt eine zur Verhärtung führende Selbstbestätigung, weil man so ja immer nur hört, wie unendlich Recht man doch selbst hat und wie bedeutsam der eigene Standpunkt ist.
Sie sagen, dass sich „durch die indiskreten Medien der Gegenwart die Luft der Epoche geändert“ habe. Wie ist das gemeint?
Auf einmal wird alles sichtbar – und zwar in Echtzeit: Das Banale, das Bestialische, das Berührende, die schreckliche Nachricht und die gute Nachricht. Was auch immer geschieht, erreicht uns im eigenen Kommunikationsradius in einer ganz neuen Unmittelbarkeit und Direktheit. Wobei das Smartphone das Paradebeispiel für ein indiskretes Medium ist – es lässt einst diskrete, voneinander getrennte gesellschaftliche Sphären miteinander verschmelzen, die Welt des Öffentlichen und die Welt des Privaten, die Welt des kleinen Ärgers und des großen Ärgers, die Welt, die uns so nahe ist und die Welt, die uns so weit entfernt ist.
Mit der Folge, dass – wie Sie ja sagen – kein Tag mehr ohne Verstörung vergehe.
Meine These lautet: Vernetzung heißt Verstörung. Im Zeitalter der mächtigen Massenmedien gab es noch einen Dreischritt der Enthüllungen: Jemand bemerkte einen Missstand, etwas, was ihn störte, Indizien eines moralischen Vergehens. Um das publik zu machen, musste er sich an die Medien wenden. Aber die Journalisten am Tor zur öffentlichen Welt entschieden, ob das, was der Informant da entdeckt hatte, überhaupt interessant und relevant war. Und das Publikum konnte erst nach der Veröffentlichung reagieren. Am Ende des Kommunikationsprozesses. Es war zur Reaktion verdammt, konnte nicht selbst agieren, konnte bestenfalls anrufen oder einen Leserbrief schreiben und auf die Gnade eines unredigierten Abdrucks hoffen. Heute kann das medienmächtige Publikum mit indiskreten Medien in der Hand dagegen selbst skandalisieren. Eine entscheidende Veränderung ...
Wobei das ja, wie Sie schreiben, auch von einer Emotionsindustrie gesteuert wird …
An dieser Emotionsindustrie nehmen ganz unterschiedliche Player teil: Zum einen das medienmächtig gewordene Publikum, das verlinkt und teilt, das postet, publiziert und kommentiert, das empört und stört, mal zu Recht, mal zu Unrecht. Zum anderen aber auch der eigentlich etablierte Journalismus, der unter den gegenwärtigen Geschwindigkeitsbedingungen in neue Konkurrenzverhältnisse hineingezwungen wurde. Und der sich auch – wenn es darum geht, einen Skandal auszurufen, Publikum zu gewinnen, im Kampf um Aufmerksamkeit zu siegen – immer wieder Grenzüberschreitungen leistet. Und schließlich sind Plattformen ganz entscheidende Akteure in der Emotions- und Erregungsindustrie der Gegenwart geworden. Man kann heute ja in Echtzeit sehen, was Menschen interessiert, wie gut ein Reizwort wie Drama, Sex, Geheimnis funktioniert, wie gut eine Schlagzeile angenommen wird. Und weil sie so genau und in Echtzeit sehen können, was passiert und fasziniert, liegt selbstredend der Gedanke nahe, einen entstehenden Hype systematisch zu verstärken. In den Echtzeitquoten der digitalen Gegenwart ist ein Anreizsystem verborgen, das den Hype und das Extrem begünstigt.
Ist dem Menschen nicht bewusst, in welchem Ausmaß er da manipuliert wird?
Diese Mechanismen sind ziemlich unbekannt. Wir wissen natürlich ungefähr, wie eine Redaktion arbeitet, wir haben auch eine konkrete Adresse, können einen Redakteur auch kontaktieren, wenn uns etwas nicht gefällt; hier gibt es eine verantwortungsethische Erreichbarkeit. Aber die Art und Weise, wie Plattformen – etwa Facebook – mit ihrem Geschäftsmodell der Erregung und Emotionalisierung bestimmte Themen begünstigen, andere hingegen marginalisieren, das ist weitgehend intransparent.
In Ihrem Buch heißt es auch, dass ein „alles verbindendes Gefühl der Gereiztheit“ entstanden sei. Gab es in früheren Zeiten denn keine gereizten Gesellschaften?
Doch. Jeder große Medienumbruch, jede Medienrevolution, erzeugt Stress. Wir wissen, dass Platon die Erfindung der Schrift skandalisiert hat, mit dem Argument, nun könnten die Menschen alles in schriftlicher Form dokumentieren und damit ihr Gedächtnis nicht mehr ausreichend üben. Wir wissen, dass mit der Entstehung des Buchdrucks das Gefühl beherrschend wurde, Menschen würden nun ungeheuer unter Stress geraten, weil auf einmal so viele Bücher auf den Markt kämen. Und heute erleben wir ja wieder eine laufende Medienrevolution, ein Verschwimmen der Grenzen zwischen dem Nahen und dem Fernen, dem Öffentlichen und dem Privaten, der Information und der Emotion. Auch unsere Gesellschaft reagiert, so meine These, unter diesen Bedingungen der Vernetzung mit Stress, mit Gereiztheit, mit Wut. Wir kommen einander, so könnte man sagen, im Weltinnenraum der Kommunikation, schlicht und einfach zu nahe. Wir sehen uns zu direkt. Die Tatsache der Vernetzung erlaubt die abkühlende Distanznahme immer weniger. Wir sehen, was ein Politiker denkt, wir werden mit dem Bewusstseinsstrom eines delirierenden amerikanischen Präsidenten auf Twitter konfrontiert, wir erhalten wütende E-Mails, wenn wir öffentlich etwas sagen, was manchen missfällt. Diese Möglichkeit der Direktkonfrontation erzeugt die große Gereiztheit.
Sind die letzten Hemmschwellen geschwunden? Oder besser gesagt: Verschwunden?
Zum einen gibt es die Verwilderung der kommunikativen Sitten, die anonyme Hassattacke, das Mobbing-Spektakel, den vollkommen respektlosen Angriff auf Politiker, Journalisten, Menschen mit Migrationshintergrund und auf viele andere mehr, die man als Feinde ausgemacht hat. Zum anderen gibt es aber auch ein zunehmendes Interesse an empathischer, authentischer, wertschätzender Kommunikation, das ist beobachtbar. Und schließlich gibt es auch einzelne Welten in der Gesellschaft, in der man eine sprachliche und moralische Hypersensibilität pflegt. Hier wird dann jede kleine Grenzüberschreitung, jede marginale Normverletzung, jeder blöde Witz unter Umständen skandalisiert. Ich würde sagen, es ist also eine Gleichzeitigkeit der Entwicklung, die Wutattacken, das Bemühen um Wertschätzung, die aggressive Hypersensibilität in einzelnen Milieus.
Sie analysieren „Gereiztheit“ in Form von fünf Krisendiagnosen. So gebe es, erstens, eine Wahrheitskrise …
Mediale Manipulation ist einerseits demokratisiert worden, weil sich jeder Einzelne einschalten kann, anderseits aber auch effektiviert worden: Autokraten entsenden ganze Troll-Armeen in soziale Netzwerke, um Andersdenkende niederzubrüllen. PR-Spezialisten präsentieren Artikel als pseudojournalistisches Angebot, personenbezogene Daten werden genutzt, um sehr feinkörnig auszulesen, was den einzelnen Menschen oder die Gruppe interessiert und wie man sie mit Propaganda aufreizen kann. All dies zusammen führt zu einer doppelten Diagnose: Die Wahrheitskrise entsteht aus der Tatsache, dass sich jeder Einzelne am medialen Manipulationsgeschehen beteiligen kann – und sie entsteht aus der Tatsache, dass wir mit der digitalen Technologie Möglichkeiten haben, um sehr viel effektiver zu manipulieren. Die Menschen sind verunsichert, die diffuse Ahnung des Zweifelhaften demoliert die Ruhebank fester Wahrheiten.
Sie sehen, zweitens, auch eine Diskurskrise und verwenden da den famosen Ausdruck „Die Attraktivität des großen Verdachts“. Was ist denn diese Attraktivität des großen Verdachts?
Es gibt heute unterschiedliche Formen der Skepsis: Einerseits die berechtigte, die gute Skepsis, den Zweifel, ob auch alles so stimmt, was einem aus der Öffentlichkeit entgegentritt. Und andererseits eine zunehmend entfesselte Pseudoskepsis, die dann den Pauschalverdacht formuliert, den großen Verdacht. Das sind Verschwörungstheorien im Extremfall. Da ist man nicht mehr skeptisch gegenüber einem einzelnen Bericht, sondern gegenüber den Journalisten, da stellt man nicht mehr die Darstellung eines einzelnen Politikers infrage, sondern verdammt die Politik als Ganzes. Und das macht einen Diskurs schwieriger, weil wir, um miteinander reden und auch streiten zu können, eine kollektiv akzeptierte, anerkannte Faktenbasis brauchen.
Drittens, eine Autoritätskrise …
Mich beschäftigt, dass heute sehr vieles sehr schnell sichtbar wird, und ich frage mich: Was macht das mit Autorität? Was heißt es, wenn Menschen, die wir für Helden gehalten haben, uns so nahekommen, uns zu nahekommen? Wenn im Internet Videos kursieren, die etwa einen hohen Politiker in einer lächerlichen oder peinlichen Pose zeigen? Der einstige US-Präsident Franklin D. Roosevelt war gelähmt. Die meisten Amerikaner hatten zu Roosevelts Lebzeiten allerdings überhaupt nicht gewusst, dass ihr Präsident seit seinem 16. Lebensjahr im Rollstuhl saß. Dass er diese Tatsache verbergen konnte, war nur möglich, weil er in einer völlig anderen Medienepoche lebte. Das wäre heute völlig undenkbar, unter der Dauerbeobachtung von Menschen, die bei der geringsten Gelegenheit bereitwillig ihr Smartphone hochreißen. Das heute, das ist die Totalausleuchtung des Alltags. Man kann es auch so ausdrücken: Helden verzwergen.
Viertens, eine Behaglichkeitskrise …
Unser Gefühl, uns abschotten zu können und uns Nachrichtenströmen entziehen zu können, erweist sich zunehmend als illusionär. Die Möglichkeit der Abschottung, die Möglichkeit, in einem Gefühl der Behaglichkeit zu existieren, besteht unter den vernetzten Bedingungen immer weniger.
Könnte man da auch von einem penetranten Lärm der Moderne sprechen?
Ja. Dieser Lärm drückt sich durch. Dieser Lärm schleift die eigene Idylle. Dieser Lärm erreicht uns ganz unmittelbar und in früher nicht gekannter Direktheit.
Und schließlich, eine Reputationskrise …
Damit ist gemeint, dass Reputation – verstanden als positive Wahrnehmung von Individuen, Organisationen oder auch ganzen Staaten – unter den gegenwärtigen Medienbedingungen angreifbar geworden ist wie nie zuvor.
Ihren Worten zufolge wird man der Welt der digitalen Öffentlichkeit aber weder durch pauschale Euphorie noch durch einen pauschalen Pessimismus gerecht. Es gibt also Hoffnung?
Nun, ich bin ein entschiedener Aufklärungsoptimist und denke, dass man den Verhältnissen unserer digitalen Wirklichkeit nur gerecht wird, wenn man die Ambivalenz der digitalen Technologie und der Vernetzung insgesamt zeigt. Einerseits profitieren wir von der Welt des Informationsreichtums, von der blitzschnellen Kommunikation der barrierefreien Interaktion, andererseits erleben wir, wie die neuen Kommunikationsbedingungen unser Verständnis von Wahrheit, Autorität und Diskurs unterspülen.
Würden Sie sagen, dass die heutige Gesellschaft informierter ist, als Sie jemals war? Oder desinformierter?
Sie hat mehr Informationen als jemals zur Verfügung. Aber die Chancen der Desinformation sind ebenso gewachsen. Mehr Information macht uns, das ist deutlich geworden, nicht automatisch mündiger, sondern steigert die Chancen der Desinformation.
Am Ende des Buches träumen Sie einen großen, bildungspolitischen Traum, „den Traum einer redaktionellen Gesellschaft“.
Das wäre eine Gesellschaft, in der die Maximen des guten Journalismus zu einem Element der Allgemeinbildung geworden sind. Sie lauten: „Prüfe erst, publiziere später. Sei skeptisch. Habe stets mehrere Quellen und analysiere deine Quellen. Höre immer auch die andere Seite. Orientiere dich an Relevanz und Proportionalität. Unterscheide Wichtiges von Unwichtigem, Relevantes von Irrelevantem.“ Das ist meine Bildungsutopie, die ich in meinem Buch entfalte. Wir brauchen ein Schulfach, in dem Medienanalyse, Machtanalyse und Medienpraxis eingeübt werden. Wir brauchen einen Journalismus, der transparent macht, wie er selbst recherchiert und Informationen strukturiert. Und wir brauchen eine Regulierung, die Plattformen zwingt, ihr eigenes publizistisches Programm offenzulegen. Über all dies müssten Bürger dieser redaktionellen Gesellschaft diskutieren – auf dem Weg zu einer Medienmündigkeit auf der Höhe der digitalen Zeit.
Sie würden also das große Gespräch über publizistische Verantwortung führen?
Das ist ein Gebot der Stunde, ja. Es geht darum, eine große Debatte um publizistische Standards zu initiieren, eine Wertedebatte. Denn diese Standards gehen jeden an. Jeder ist zum Sender geworden, jeder ist medienmächtig geworden. Aber nicht jeder ist auch medienmündig.
Vielen Dank für das Gespräch!
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