Christian Feurstein

Wirtschaftsarchiv Vorarlberg

Der Fall Josef Groß – Eine Eisenbahnergeschichte

September 2022

Vor 150 Jahren begann mit der Inbetriebnahme der Strecke Lindau-Bludenz das Eisenbahnzeitalter in Vorarlberg. Zu den Bahnbediensteten der ersten Stunde zählte Josef Groß, Stationsleiter in Lochau. Als er nach 22 Dienstjahren verstarb, notierte der Lochauer Pfarrer im Register als Todesursache „Carbolintoxication“, als Sterbeort „Bäumle Stationsgebäude“. Eine Karbolvergiftung klingt zunächst plausibel, zumal diese Substanz früher zum Imprägnieren von Eisenbahnschwellen verwendet wurde. Doch eine genauere Sicht auf den „Fall Josef Groß“ bringt Überraschendes zu Tage und gibt Einblick in die Lebensbedingungen einer Eisenbahnerfamilie im späten 19. Jahrhundert. 
Josef Groß stammte aus einfachen Verhältnissen. Er wurde 1845 als Sohn eines aus Hohenweiler stammenden Tischlers und Glasers in Sulz geboren und erlernte ebenfalls das Tischlerhandwerk. Sein weiterer Werdegang ist in der später angelegten Eisenbahner-Personalakte aufgelistet: Mit knapp 17 Jahren begann Josef Groß als „Diener im Pensionat Feldkirch“ (Jesuitenkolleg Stella Matutina), nahm 1866 am Italienfeldzug teil und war anschließend Zugführer bei den Kaiserjägern. 1870 ging es zurück ins Ländle, zunächst als „Telegraphen-Amtsdiener“ in Bregenz, und ab Juli 1872 als „Wächter und Cassier“ der Bahnhaltestelle Lochau der neueröffneten Vorarlberger Bahn. Später erfolgte die Aufwertung zum Stations-Aufseher und 1885 zum Stationsleiter.
Im Jahr 1872 heiratete Josef Groß und bezog mit seiner Frau Katharina (geb. Beirer) das kleine Haltestellengebäude. Doch die Ehe blieb kinderlos und nach drei Jahren verstarb die Ehefrau. Im Jahr darauf folgte die Hochzeit mit der achtzehnjährigen Johanna (geb. Kresser). Aus dieser Ehe entstammten 15 Kinder, von denen vier kurz nach der Geburt oder im Kindesalter verstarben. Mehrmals vermerkte der Pfarrer im Taufbuch als Geburtsort einfach nur „Bahnhöfle“. Ob tatsächlich die ganze Familie unter einem Dach in dem kleinen eingeschossigen Häuschen lebte, ist nicht bekannt.
Über den plötzlichen Tod des erst 49-jährigen Josef Groß im Jahr 1894 war in den Vorarlberger Zeitungen kaum etwas zu lesen. Nur vereinzelt wurde kurz notiert, der Verstorbene habe wohl eine Flasche verwechselt und Karbolsäure in größerer Menge getrunken. Ausführlicher berichtete dagegen die in Wien erschienene Verkehrs-Zeitung, ein Interessensorgan für Eisenbahner und Verkehrsbedienstete:
„Am 18. August, abends 6 Uhr, nachdem die Personenzüge 239 und 330 die Haltestelle Lochau der k. k. Staatsbahnen zwischen Bregenz und Lindau verlassen hatten, vergiftete sich der dortige Stationsleiter Herr Josef Gross mittelst Carbolsäure. Der Lebensüberdrüssige hinterlässt eine Witwe und 11 Kinder, von denen das älteste 18 Jahre, das jüngste einige Monate alt sind. Diese zahlreiche Familie sollte der Unterbeamte mit einem Jahresgehalte von 650 Gulden [fl.] erhalten. […] Dass er beim letzten Juli-Avancement nicht bedacht wurde, während der Herr Stationsvorstand von Bregenz Oberofficial Bergauer den Gehalt von 1600 fl. auf 2200 fl. erhöht bekam, wirkte auf Gross niederschlagend und verbitternd. Aber er hatte noch eine Hoffnung. Der Chef der Staatsbahnen Herr Ritter von Bilinski sollte auf seiner Inspectionsreise nach Vorarl­berg auch Lochau passieren und der angesagte Separatzug daselbst 5 Minuten Aufenthalt nehmen. Diese Gelegenheit wollte Gross nutzen, um eine Verbesserung seines Loses zu erbitten. Da machte der Zufall einen Strich durch die Rechnung des Armen: Der Separatzug verkehrte nur bis Bregenz, von hier nach Lindau und zurück benützte Herr v. Bilinski das Dampfschiff, wie er auch bei seinen früheren Inspectionsreisen in diesem Gebiete gethan hatte. Die Hoffnungen des braven Lochauers waren zu nichte geworden und in seiner Verzweiflung darüber gab er sich den Tod. Für die k. k. Staatsbahnen erwägt nun die Pflicht, für die Witwe und die 11 Waisen ausgiebig zu sorgen, so dass nicht das beschämende Schauspiel der Witwe eines mehr als 20jährigen Dieners am Bettelstabe eintritt! […]“
Die Verkehrs-Zeitung schilderte den tragischen Fall freilich im Sinne ihrer Klientel. Weitere Umstände und Hintergründe lassen sich aus anderen Quellen nicht mehr rekonstruieren. Als Josef Groß 1872 bei der damals noch privaten Vorarlberger Bahn seinen Dienst antrat, betrug sein Jahresgehalt 360 Gulden. Das war mehr als das Doppelte, als Eisenbahn-Initiator Carl Ganahl den ungelernten Arbeitern in seinen Textilfabriken bezahlte. Allerdings waren solche Industriearbeiterlöhne nicht dafür ausgelegt, eine Familie zu ernähren. Vielmehr gingen damals einzelne Familienmitglieder einer Fabrikarbeit nach, um einen Teil zum Haushaltseinkommen beizutragen.
Der Historiker Manfred Scheuch berechnete die Lebenshaltungskosten in Vorarlberg für das Jahr 1871 mit 208 Gulden, für 1892 mit 230 Gulden. Das Jahresgehalt von Josef Groß stieg bis zum Ende seiner Laufbahn auf 650 Gulden an, ein üblicher Betrag für Vorstände kleinerer Stationen. Damit war er deutlich besser gestellt als die Arbeiterschaft im Land. Die Ernährung einer derart großen Familie muss dennoch eine enorme Herausforderung gewesen sein, auch wenn die älteren Kinder wohl nach und nach einer Arbeit nachgegangen sind.
Die Hinterbliebenen von Josef Groß endeten jedenfalls nicht wie befürchtet am Bettelstab. Neben einer Witwenpension und Erziehungsgeld erhielt die Familie im Zuge einer Sammlung unter Bahn-Angestellten stolze 699 Gulden – also mehr als ein Jahresgehalt. 1903 wurde die jährliche Pension für Johanna Groß mit 600 Kronen (entsprach 300 Gulden) bemessen, was etwa dem Durchschnittslohn in der heimischen Baumwollindustrie entsprach. Und immerhin drei Söhne von Josef Groß schlugen ebenfalls eine Berufslaufbahn als Eisenbahner ein.

© Fotos: Sammlung Willi Rupp, Privatbesitz, beigestellt

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