WALTER HÖMBERG

Walter Hörmberg war Lehrstuhlinhaber für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an den Universitäten Bamberg und Eichstätt und hat lange Zeit als Gastprofessor an der Universität Wien gelehrt. Er hat zahlreiche Studien zur Geschichte und Gegenwart des Journalismus veröffentlicht und ist Mitherausgeber des Bandes „Ich lass mir nicht den Mund verbieten! Journalisten als Wegbereiter für Pressefreiheit und Demokratie“, der soeben im Reclam Verlag erschienen ist.

Die Authentische sozial-reporterin Maria Leitner

August 2020

Eine der größten über ganz New York verstreuten Massenabfütterungsanstalten ist das Automatenrestaurant Horn & Hardart. Hier versuchte ich, Arbeit zu erhalten.“ So beginnt Maria Leitner ihre Reportage „Automat unter Automaten“, die im Dezember 1925 im Berliner Monatsmagazin „Uhu“ abgedruckt wird. In der amerikanischen Metropole war der Andrang der arbeitsuchenden Frauen groß, doch die Autorin hat Glück: Sie wird in eine Uniform gesteckt und als Nummer zwölf für die Filiale in der 14. Straße angestellt. „Dann werde ich in den Saal geschoben, und man drückt mir ein Tablett in die Hand. Ich weiß nun, dass ich ein ‚busgirl‘ bin, d. h. ein Omnibus, der mit Geschirr vollgepackt hin- und herrollt; ganz einfach ausgedrückt, ist meine Lebensaufgabe von nun an, Geschirr abzuräumen.“

Nach dem Ersten Weltkrieg übten die Vereinigten Staaten – wie schon knapp hundert Jahre zuvor – eine große Sogwirkung aus. Die Europamüden wollten im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ ihr Glück – oder zumindest Arbeit – finden. Maria Leitner folgt 1925 ihrem Bruder Johann, der unter seinem ungarischen Namen Janos Lékai beziehungsweise als John Lassen journalistisch tätig ist, nach New York. Sie soll im Auftrag des Ullstein Verlags über die Neue Welt berichten. „Wir haben unsere Mitarbeiterin Fräulein Maria Leitner mit der schwierigen und mutigen Aufgabe nach Amerika geschickt, die dortigen Erwerbsmöglichkeiten […] durch das Opfer persönlicher Dienstleistungen zu studieren.“ So heißt es im Vorspann zu ihrer ersten Rollenreportage im „Uhu“ vom September 1925. Sie schildert darin ihre Erfahrungen als Scheuerfrau im größten Hotel der Welt.
Maria Leitner betreibt keinen Globetrotter-Journalismus, der die exotischen Seiten fremder Länder in bunten Farben ausmalt. Sie will möglichst authentisch über die Lebenswirklichkeit der sogenannten kleinen Leute berichten. Deshalb arbeitet sie inkognito als Putzfrau, als Kellnerin und als Lehrling in einer Zigarrenfabrik. Angeblich ist sie in sechzig unterschiedliche Berufsrollen geschlüpft. Die Ichform, bei Reportern sonst durchaus umstritten – hier ist sie angemessen: Die Autorin schildert in ihren Texten ihre eigenen Erlebnisse und Erfahrungen. Damit gehört sie zusammen mit ihrem Wiener Zeitgenossen Max Winter zu den Pionieren der Rollenreportage.

Als Scheuerfrau im Luxushotel erhält Maria Leitner einen Dollar pro Tag. Zu Beginn wird sie mit den nötigen Arbeits­utensilien ausgestattet: Eimer, Seife, Tüchern, einer Scheuerbürste und einem kleinen Teppich. Wozu der Teppich? Gleich am ersten Tag muss sie erfahren, dass er „keineswegs dazu da sei, meine Knie zu schützen, sondern die Umgebung, die im gegebenen Fall aus feinen Teppichen bestehen kann, vor den Spuren des Eimers“. Komfort und Luxus für „die da oben“, die reichen Gäste – Ausbeutung und Entbehrungen für „die da unten“, die Putz- und Badefrauen, die Zimmermädchen, die Liftboys. Das Hotel als Exempel für die sozialen Unterschiede.

Das Automatenrestaurant bietet die Essensportionen in kleinen Glasvitrinen an, die sich nach Münzeinwurf öffnen. „Aber auch hinter den Automaten stehen unsichtbar in dem schmalen heißen Gang Automaten. Sie legen Sandwichs auf Teller, immer wieder neue, sie verteilen Kuchen und Kompott.“ Sie „tragen die schweren Tablette, räumen immer wieder das schmutzige Geschirr ab“. „Automaten stehen ganz unten in der Tiefe, Negerautomaten, und waschen Geschirr ab, den ganzen Tag, die ganze Nacht. Automaten sitzen an der Kasse und wechseln 25, 50-Cent-Stücke, Dollars in Nickel um.“ Vom Tellerwäscher zum Millionär? Die Wunderformel vom sozialen Aufstieg entpuppt sich bei der Undercover-Recherche als Illusion.

Maria Leitner? In den einschlägigen Pressegeschichten, in Anthologien mit journalistischen Texten, ja selbst in einer kürzlich erschienenen Berufsgeschichte über Journalistinnen sucht man diesen Namen vergeblich. Aber einige Diplom- und Magisterarbeiten haben sich mit dieser Pionierin der Sozialreportage beschäftigt. Vor allem der Autorin Helga W. Schwarz ist es zu verdanken, dass sie nicht ganz in Vergessenheit geraten ist. Seit fünfzig Jahren hat sie sich mit der Biographie Leitners befasst und in mehreren Büchern Auszüge aus ihrem journalistischen Werk und Neuauflagen ihrer Romane publiziert.
Ihr Leben im Telegrammstil: Geboren wurde Maria Leitner am 19. Januar 1892 in Varaždin, einer kroatischen Kleinstadt, und dort in das jüdische Geburtsregister eingetragen. Gut vier Jahre später Umzug der Familie nach Budapest. Dort Besuch der Ungarischen Königlichen Höheren Mädchenschule. 1910 Beginn des Studiums der Kunstgeschichte in Wien, Fortsetzung in Berlin. 1913 Rückkehr nach Budapest und redaktionelle Mitarbeit beim Boulevardblatt „Az Est“ (Der Abend). Engagement im linksintellektuellen Galilei-Kreis, zusammen mit ihren beiden jüngeren Brüdern Maximilian und Johann, die ebenfalls journalistisch und politisch aktiv sind. Während des Ersten Weltkriegs zeitweise Korrespondentin in Stockholm für ungarische Zeitungen.

 

Maria Leitner gilt heute als Pionierin der Rollenrecherche. Als Sozial­reporterin hat sie den Welt­kriegen den Menschen am Rande der Gesellschaft Gesicht und Stimme gegeben. Nach ihrem Tod geriet sie in Vergessenheit.

Nach dem Untergang der Habsburger Monarchie und den revolutionären Umbrüchen in Ungarn Flucht zunächst nach Wien und Berlin. 1925 bis 1928 Reportagen aus Nord-, Mittel- und Südamerika. Dann Veröffentlichung mehrerer Bücher. 1933 Flucht vor der Judenverfolgung in Deutschland. Wechselnde Wohnorte im Exil: Prag, Wien, Paris, Saarbrücken, Toulouse. Nach dem vergeblichen Versuch, ein Einreisevisum in die USA zu bekommen, stirbt sie – physisch und psychisch entkräftet – am 14. März 1942 in einer psychiatrischen Klinik in Marseille.
Ein ruheloses Leben, von dem manche Phasen noch kaum ausgeleuchtet sind. Die multikulturelle Umgebung, in der sie aufgewachsen ist, die ethnischen Konflikte im österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat, der Zusammenbruch der Monarchie, Revolution und Konterrevolution nach Kriegsende haben sie politisch sensibilisiert. Journalistische Neugier, ein anwaltschaftliches Berufsverständnis und menschliches Mitgefühl haben sie angetrieben, gesellschaftliche Konflikte aufzuspüren und soziale Ungerechtigkeiten anzuprangern. Journalistische Distanz – der Blick von außen – war ihre Sache nicht, sie berichtete aus den Maschinenräumen der Gesellschaft und identifizierte sich mit den Opfern der kapitalistischen Welt.

Wie manche schreibenden Zeitgenossen verarbeitete Maria Leitner ihre Rechercheergebnisse auch in belletristischen Formen. Die Novelle „Sandkorn im Sturm“, 1929 zuerst als Serie in Willi Münzenbergs „Welt am Abend“ veröffentlicht, beschreibt die Zerschlagung der ungarischen Räterepublik. Der Roman „Hotel Amerika“, 1930 erschienen, beruht auf ihren amerikanischen Erfahrungen. Die Nazis setzten ihn auf die Liste der verbotenen Bücher. In „Elisabeth, ein Hitlermädchen“ (1937) schildert sie eine Jugend im sogenannten Dritten Reich. Siegfried Kracauer schrieb eine positive Rezension: „Der Individualismus der Angestellten wird gegeißelt, ihr kleinbürgerlicher Instinkt durchschaut, ihre Kümmerlichkeit ohne falsches Mitgefühl analysiert.“

In einer Artikelreihe für die Abendzeitung „Tempo“, erschienen 1928/29, lies Maria Leitner verschiedene Protagonisten aus dem Berliner Milieu zu Wort kommen: eine junge Stenotypistin, Damen der Gesellschaft, ein Dienstmädchen. In diesen kurzen Skizzen wird der Mythos der Goldenen Zwanziger eindrucksvoll entlarvt. Zentrales Thema ist der Kampf für die Rechte und die Emanzipation der Frauen, die der Autorin nur durch politische Aktionen und gesellschaftliche Organisation erreichbar schienen.

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