David Stadelmann

* 1982, aufgewachsen in Sibratsgfäll, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, Fellow bei CREMA – Center for Research in Economics, Managemant and the Arts; Fellow beim Centre for Behavioural Economics, Society and Technology (BEST); Fellow beim IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues; Fellow am Ostrom Workshop (Indiana University); Mitglied des Walter-Eucken-Instituts.

 

Marco Portmann

Wie vertreten Politiker die Bürger?

September 2017

Entspricht das, was Politiker tun, dem, was die Bürger wollen? Rund die Hälfte des erwirtschafteten Gesamteinkommens der meisten europäischen Länder wird unmittelbar durch kollektive, sprich politische, Entscheidungen über staatliche Institutionen neu verteilt. Die andere Hälfte wird mittelbar durch Gesetze und Rahmenbedingungen und damit auch durch politische Entscheidungen mitbeeinflusst. Eine gute Regierungsführung, eine gute Vertretung der Bürgerpräferenzen, gute kollektive Entscheidungen – oder Neudeutsch „good governance“ – sind daher entscheidend, und dies nicht nur bei den Wahlen, wo viele Versprechungen abgegeben werden.

Die Forschung zur Qualität der Bürgervertretung litt oft daran, dass zwar das Tun der Politiker recht gut, die Präferenzen der Bürger jedoch unzureichend beobachtbar sind. So reicht es nicht, die Bürger unverbindlich zu befragen, ob sie zum Beispiel für die Förderung alternativer Energie oder mehr Umverteilung sind. Denn über kollektive Entscheidungen können politische Ziele auf unterschiedlichste Arten und zu unterschiedlichen verbindlichen Kosten für die Bürger erreicht werden. Aussagekräftige Analysen zur Bürgervertretung erhält man nur dann, wenn Entscheidungen von Politikern und die Präferenzen der Bürger mit Bezug auf identische politische Fragen verglichen werden können.

Um herauszufinden, wie Volksvertretung funktioniert, macht es Sinn, den westlichen Nachbarn Vorarlbergs genauer unter die Lupe zu nehmen. In der Schweiz entscheiden nicht nur die Politiker als Vertreter der Bürger, sondern oft die Bürger selbst über Politikvorlagen. Alle Verfassungsänderungen müssen obligatorisch und Gesetzesänderungen fakultativ auf Verlangen von 50.000 Bürgern einer verbindlichen Abstimmung unterzogen werden. Zudem können 100.000 Bürger per Initiative eine selbst ausgearbeitete Vorlage zur Volksabstimmung bringen.

Den Volksabstimmungen gehen parlamentarische Entscheidungen der Politiker voraus, welche direkt mit den Entscheidungen der Mehrheit der Bürger ihrer Wahlbezirke verglichen werden können. Dadurch ergibt sich ein einzigartiges Maß für die Übereinstimmung von Politikern und den geäußerten Präferenzen der Bürger. Dieses Maß kann dazu verwendet werden, um Faktoren für eine bürgernahe Politik mittels moderner statistischer Methoden zu identifizieren, was wir in zahlreichen Forschungsarbeiten gemacht haben. Darüber hinaus kann der Einfluss von Interessengruppen und von Parteien, die jeweils vor den Abstimmungen Empfehlungen ausgeben, mitberücksichtigt werden. Damit ist in der Schweiz eine nahezu perfekte „Experimentieranlage“ aus Sicht von sozialwissenschaftlicher Forschung.

Institutionelle Einflüsse

Bei Entscheidungen im Parlament weichen Politiker deutlich von den Präferenzen der Bürger in Volksabstimmungen ab. In nur rund zwei Drittel der Fälle entscheidet die Mehrheit der Bürger gleich wie ihre Repräsentanten im Parlament. Während diese zwei Drittel als absolute Größe eine Schweizer Eigenheit sein mögen, liegt der entscheidende Akzent unserer vielen Analysen auf allgemeinen Relationen und Determinanten der Bürger-Politiker-Kongruenz und daraus lassen sich generalisierbare Ergebnisse mit Bedeutung für andere Länder gewinnen.

Wie aus der internationalen Literatur bekannt, spielen Institutionen für „good governance“ und damit für die Vertretung der Bürgerpräferenzen eine entscheidende Rolle. Eine bedeutende Institution ist das Wahlverfahren. Das Schweizer Parlament hat zwei Kammern, die zwar identische Kompetenzen haben und von den gleichen Wählern gewählt werden. Allerdings werden die beiden Kammern auf unterschiedliche Art gewählt. Die Mitglieder der großen Kammer, dem Nationalrat, werden nach einem Verhältniswahlverfahren gewählt und die Sitzzahl variiert mit der Bevölkerungsgröße der Kantone. Hingegen werden die Mitglieder der kleinen Kammer, dem Ständerat, im Regelfall nach dem Mehrheitswahlverfahren gewählt. Dies macht einen entscheidenden Unterschied: Politiker, die nach einem Verhältniswahlverfahren gewählt werden, versuchen spezifische Wählergruppen über das gesamte politische Spektrum von weit links bis weit rechts zu bedienen. Sie weichen daher stärker von der Mehrheit der Bürgerpräferenzen ab als Politiker, die nach einem Mehrheitswahlverfahren gewählt wurden und sich eher in der Mitte positionieren. Im Nationalrat spielt auch die Parteizugehörigkeit und die Parteiloyalität eine weit größere Rolle als für Politiker im Ständerat. Der Druck Richtung Mitte ist für die Ständeräte sogar so groß, dass Parteizugehörigkeit zur Erklärung der Abweichungen von den Bürgerpräferenzen keine relevante Rolle mehr spielt.

Überraschenderweise werden die Politiker durch die Wahlverfahren nicht nur unterschiedlich selektioniert, sondern passen ihr Rollenverständnis flexibel an das jeweilige Verfahren an, wenn sie zwischen den Kammern und damit den Wahlverfahren wechseln. Konkret zeigen die Ergebnisse, dass vom Nationalrat in den Ständerat gewählte Politiker sich systematisch anpassen und dabei nach der Wahl bedeutend mehr auf die Bürgerpräferenzen eingehen.

Zuletzt erweist sich das Nebeneinander von Mehrheits- und Verhältniswahl als ein Beitrag zu einer besseren und gesamtheitlichen Vertretung der Bürgerpräferenzen. Die Vielfalt in den Wahlregeln übersetzt sich in eine ausbalancierende Vielfalt im Parlament, die unerwünschte Tendenzen von reinen Mehrheits- oder Verhältniswahlverfahren eindämmt.

Persönlichkeit der Politiker

Wie gut Politiker die Bürger vertreten, hängt nur beschränkt von ihren persönlichen Eigenschaften ab, denn Faktoren wie Alter, Familienstand, Beruf und selbst formale Bildung erweisen sich als entscheidend für die Übereinstimmung mit den Bürgerpräferenzen. Politiker mit höherer Bildung und Universitätsabschlüssen machen keine bürgernähere Politik. Umso erstaunlicher ist die enorme Überrepräsentation von Akademikern und insbesondere Beamten sowie Juristen, die in vielen Parlamenten und auch in Österreich zu beobachten ist. Diese Überrepräsentation hat vermutlich mehr mit parteiinternen Selektionsmechanismen zu tun als mit einer Selektion durch die Wähler.

Selektionsmechanismen innerhalb von Parteien erklären, warum weibliche Politiker weniger oft mit der Mehrheit der Bürger stimmen als männliche. Wird nämlich statistisch berücksichtigt, dass Politikerinnen häufiger in linken Parteien politisieren, die seltener als die Mitteparteien wie die Volksmehrheit stimmen, sind beide Geschlechter statistisch gleich nahe bei den Bürgern, sogar mit einer geringfügig größeren Bürgernähe von Politikerinnen. Ähnlich zeigt sich, dass Politikerinnen die Präferenzen von Frauen insgesamt nicht systematisch besser vertreten als männliche Politiker. Bei spezifischen Fragen zur Sozialpolitik sind Politikerinnen aber die besseren Repräsentantinnen für Frauenanliegen als ihre männlichen Kollegen.

Interessant ist auch die Rolle der Wehrpflicht, denn in vielen Parlamenten dienen Politiker, die Wehrpflicht leisteten und oft höhere Dienstränge in (ehemaligen) Milizarmeen innehatten. In der Sicherheitspolitik verhalten sich Politiker umso armeefreundlicher, je höher ihr militärischer Rang ist. Dabei macht Militärdienst die Politiker nicht militärfreundlich, sondern die militärfreundlichen machen eher militärische Karriere.

Interessengruppen mischen mit

Natürlich mischen Interessengruppen in der Politik mit. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die bloße Zahl der Interessenbindungen der Politiker weniger relevant ist als die Intensität der Beziehungen zwischen Politikern und Interessengruppen. Anders gesagt: Die Zahl der Interessengruppen der Politiker alleine bringt noch keine direkten Konflikte zwischen Bürgerpräferenzen und den Entscheidungen der Politiker.

Oft wird spekuliert, dass Politiker eher die reicheren als die ärmeren Bürgerschichten vertreten. Diese Frage kann anhand von Nachwahlbefragungen, welche die Präferenzen spezifischer Gruppen von Bürgern offenbaren, untersucht werden. Im Ergebnis vertreten Politiker aller Parteien von links nach rechts die Präferenzen der Reichen tendenziell besser. Vor dem Hintergrund der andauernden Gerechtigkeitsdebatten insbesondere im Wahlkampf sprechen diese Ergebnisse für mehr Bürgerbeteiligung bei politischen Entscheidungen. Denn bei Bürgerentscheiden haben alle Bürger mit ihrer Stimme einen gleich starken Einfluss auf das Ergebnis.

Zuletzt mag sich die Frage stellen, ob Bürger nicht oft uninformiert sind und gut organisierte Interessengruppen einen starken Einfluss auf sie haben. Dem kann nur entgegnet werden, dass dies vollends der Fall ist. Bei jeder Bewertung sollte jedoch strikt vergleichend vorgegangen werden: So sind die Konsequenzen uninformierten Wählens bei repräsentativ-demokratischen Wahlen in der Regel viel schwerwiegender als bei einzelnen Sachentscheiden. Ähnlich ist es für Interessengruppen viel einfacher, Einfluss auf eine kleine Zahl von Politikern zu gewinnen als die große Bürgermehrheit systematisch zu lenken. Und natürlich könnten die Bürgerpräferenzen „falsch“ sein, was auch immer unter „falsch“ verstanden wird. Vergleichende Analyse erweist sich hier wiederum als fruchtbar: Wer beispielsweise den Brexit oder die türkische Verfassungsreform als Beleg für schlechte Bürgerentscheide anführt, kann nicht ausblenden, dass beide Entscheidungen durch weit größere Zustimmung der Politiker als durch die vergleichsweise knappen Mehrheiten der Bürger getragen wurden.

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