Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Wir leben in interessanten Zeiten

Dezember 2016

Manch einer von uns möchte allerdings meinen: „Gar so interessant müssten sie gar nicht sein.“ Aber jedenfalls bekam man im zu Ende gehenden Jahr den Eindruck, es werde in die Geschichtebücher eingehen – als ziemlich ungut. Abgesehen von Syrien, Türkei, Libyen, abgesehen vom Terror vielerorts mussten wir auch noch Brexit und Trump zur Kenntnis nehmen. Österreichische Ereignisse – ein neuer Regierungschef, Murkserei bei der Präsidentenwahl – schaffen es (Gott sei Dank) nicht in die Geschichtebücher.

Das Jahr lässt uns in noch größerer Unsicherheit in die Zukunft blicken: Die globale Wirtschaftskrise hält, trotz da und dort ein bisschen Aufschwung, weiter an. Über Trump vermag ich nicht einmal zu spekulieren. Ja, doch, eines: Mit einem gewaltigen Infrastrukturprogramm auf Staatsschulden könnte er Konjunkturimpulse geben, die auch auf Europa ausstrahlen. Was der amerikanische Wahlkampf und die Strömungen und Kräfte dahinter sonst noch offenbarten, kann nur erschüttern.

Die europäische Krise geht uns näher. Auf den ersten Blick hätte es schlimmer kommen können: Im Euroraum wuchs 2016 das BIP mit +1,6 Prozent zwar etwas schwächer als ein Jahr zuvor, aber Österreich schnitt mit +1,7 Prozent erstmals seit ein paar Jahren nicht schlechter ab als dieser. Und Vorarlberg erzielte dabei wieder europäische Spitzenwerte.

Aber erschreckend ist sowohl die Handlungsunfähigkeit der Europäischen Union in zentralen Fragen ihrer Existenz wie auch die Sackgasse, in die die Geldpolitik der EZB geraten ist. Die Situation ist allerdings in der Schweiz nicht besser: Dort ist man noch weiter ins perverse Gebiet der Minuszinsen für Kredite vorgedrungen. Besser könnte man die Zukunftssorgen nicht beleuchten als mit der Feststellung, dass Kredite billig sind wie noch nie (in bestimmten Fällen bekommt man sogar Zinsen, wenn man Kredit nimmt), aber die Wirtschaft riskiert nichts und investiert überwiegend nur, was unbedingt notwendig ist. Und natürlich richtet der Wegfall von Einlagezinsen ungeheuren Schaden für Sparen und Vorsorge an. Pensionsfonds, Versicherungen und ein paar andere Finanzierungsformen geraten in Schwierigkeiten.

Ich sage nicht, dass eine Geldpolitik der Liquiditätsschwemme falsch war. Sie rettete damit einige Finanzminister mit ma­roden Budgets. Auch Herr Schelling ist nicht böse, wenn er weniger Zinsen für die Staatsschulden zahlen muss. In erster Linie ging es um Zeitgewinn für die hoffnungslos beschädigte griechische Wirtschaft und um die Stabilisierung der Lage in einigen anderen hoch verschuldeten südeuropäischen Ländern, speziell Italiens angesichts einiger schwer angeschlagener Großbanken. Italiens Wirtschaft ist mehrere Jahre hindurch geschrumpft, die Wirtschaftsleistung liegt heute um beinahe zehn Prozent unter dem Niveau vor Beginn der Krise, also seit fast einem Jahrzehnt, die Staatsschulden jedoch um ein Drittel höher als damals.
Daraus resultieren heftige innenpolitische Widerstände, auf die die Reformbemühungen des Regierungschefs Renzi unvermeidlich treffen – Auftrieb für die Separatisten in der Lega Nord und für den Kabarettisten Beppe Grillo. Wir könnten uns, wie wir das in der Ära Berlusconi gewohnt waren, zurücklehnen und dem italienischen Theater vom Logensitz aus amüsiert folgen. Aber jetzt geht es bereits um den Bestand der Eurozone und dann wohl sogar der Union. Einen Ausfall Italiens überlebt die EU nicht, und Nothilfe für das vielfach größere Land als Griechenland vermöchte sie nicht zu stemmen.
In einer Situation, in der die Geschlossenheit Europas gefragt ist wie nie zuvor in den letzten Jahren (Brexit! Trump! Putin! China!), ist sie brüchiger als je zuvor. Ist daran Herr Juncker schuld? Oder Frau Merkel? Oder der nahezu Totalausfall Frankreichs als eine der Führungsmächte? Dazu noch ein bigottes Regime in Polen und Orbán in Ungarn.
Die, die an einem stärkeren Europa arbeiten, sei es, weil es ihre Dienstpflicht in Brüssel ist, sei es, wenn schon nicht aus Begeisterung, aber aus Einsicht in die Notwendigkeit eines funktionsfähigen Europas in der globalen Konstellation, die wir jetzt haben, tun vielleicht ihr Bestes. Es liegt an den kurzsichtigen nationalen Sonderinteressen etlicher Mitglieder, die unter dem Druck der schlechten Wirtschaftslage hochgespielt werden. Und es liegt auch an vertraglichen Festlegungen, die vor Jahren unter ganz anderen Verhältnissen sinnvoll oder gangbar erschienen, es heute aber nicht mehr sind. Also: Grundlegende Reformen wären überfällig – etwa mehr Betonung von Subsidiarität und föderaler Autonomie.
Eines der weit bis in die Gründung der Europäischen Gemeinschaft zurückreichenden Probleme sind die traditionellen und anhaltenden grundsätzlichen Auffassungsunterschiede über Wirtschafts­politik, speziell zwischen Deutschland und Frankreich. In einem vor Kurzem erschienenen exzellenten Sachbuch (Brunnermeier, James, Landau: „The Euro & The Battle of Ideas“, Princeton 2016) beleuchten drei Autoren (ein Engländer, ein Franzose und ein in Princeton lehrender Deutscher) die Folgen der tief verwurzelten Trennlinie wirtschaftspolitischer Ideen entlang des Rheins („the Rhine-divide“), grafisch dargestellt als der stark geglättete Verlauf des Rheins vom Bodensee zur Nordsee: ein kurzer Ast, westwärts bis Basel, scharfe Kurve nach Norden und dann ganz glatt leicht schräg nach links oben.
Dieser längliche Haken, an dem „hakt“ es in der europäischen Wirtschaftspolitik seit jeher. Lange Zeit konnte das durch rasches Wirtschaftswachstum mit Kompromissen zugedeckt werden. Die Divergenzen wurzeln tief in der Geschichte und der Mentalität. Frankreich: Etatismus, Zentralismus, Planifikation. Deutschland: Kameralistik, Ordo-Liberalismus, Föderalismus. Frankreich: Wirtschaftspolitiker von Eliteschulen, geschult in moderner Wirtschaftstheorie, Deutschland: Recht und Ordnung, juristisch geprägte Orientierung an Wirtschaftsvorstellungen eines soliden Geschäftsmannes oder der „schwäbischen Hausfrau“. Daraus entstanden der ziemlich faule Kompromiss von Maastricht (1992) und die Währungsunion.
Das wäre überbrückbar, allerdings nur in einem sehr aufwendigen Lernprozess beider Seiten und der übrigen Europäer. Die Frage ist nur, ob Europa in der Welt von heute so viel Zeit hat.

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